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15.11.2019
30 Jahre nach dem Mauerfall ist ein Umdenken nötig

von Kai Weiß
Vor 30 Jahren, am 9. November 1989, fiel die Berliner Mauer. Die Sowjetunion hatte bereits in früheren Jahren begonnen, langsam zusammenzubrechen. Michael Gorbatschow leitete erste (quasi-)Liberalisierungsprogramme ein. Karol Wojtyla, 1978 zum Papst Johannes Paul II. gewählt, initiierte in Polen eine „Revolution des Gewissens“, die Solidarnosc fortsetzte. 1987 forderte der US-Präsident Ronald Reagan in Berlin, die Sowjets sollten „diese Mauer niederreißen“. 1989 fanden in Polen die ersten freien Wahlen statt. Und in dieser Novembernacht vor drei Jahrzehnten war es endlich soweit: Der letzte Nagel im Sarg war eingeschlagen, als die Ostdeutschen über die Mauer kletterten, sie abrissen und ihre westdeutschen Mitbürger in die Arme schlossen, endlich wieder vereint.
Was jahrzehntelang hinter dem Eisernen Vorhang geschah, ist nach so vielen Jahren immer noch schockierend. Die Schrecken des Kommunismus führten im 20. Jahrhundert zu fast hundert Millionen Todesfällen, und während ein erheblicher Teil dieser im maoistischen China stattfand, war die Hauptfront nach wie vor die Sowjetunion. Natürlich hatten die Massenmorde bereits Jahrzehnte vor dem Mauerbau im Jahr 1961 begonnen. So führte der Holodomor, das absichtliche Verhungern ukrainischer Bauern, allein zu sieben Millionen Todesfällen. Die von Alexander Solschenizyn mutig beschriebenen Gulags waren ein besonders durchdringendes Bild des sowjetischen Grauens.
Dennoch ging die Abscheulichkeit des sowjetischen Kommunismus weit über den Tod hinaus. Armut und Hunger waren während der gesamten Existenz des Imperiums weit verbreitet – während die andere Seite des Eisernen Vorhangs wirtschaftlich so erfolgreich war wie nie zuvor. Grundlegende Freiheiten wie Berufswahl, Meinungs- und Glaubensfreiheit sowie Freizügigkeit waren stark eingeschränkt – beziehungsweise gar nicht erst vorhanden. Die entmenschlichenden Wirkungen des Sozialismus wurden im Stalinismus deutlich sichtbar – sie sind immer noch sichtbar, wenn man heutedas Denkmal für die Opfer des Kommunismus in Prag besucht. Papst Johannes Paul II. formulierte es treffend, als er auf ein Europa hoffte, in dem beide Lungen endlich wieder atmen konnten. Aber die Mauer verhinderte dies, trennte den Kontinent und verdammte eine Lunge zum Despotismus.
Die Atmosphäre nach dem Mauerfall war erwartungsgemäß euphorisch. Familien und Freunde, jahrzehntelang durch die Mauer getrennt, kamen endlich wieder zusammen. Vor allem aber vereinte sich eine viel größere Familie – Europa und die gesamte westliche Zivilisation – wieder. Der Sozialismus wurde schließlich besiegt – so dachte man damals. Das „Ende der Geschichte“ wurde erreicht, wie es ein (zugegebenermaßen oft missverstandener) Kommentator formulierte. Die Welt war bereit für ein liberales Zeitalter, das vielleicht ewig andauern könnte. Die Freiheit hatte den Totalitarismus besiegt.
Die 1990er und frühen 2000er Jahre folgten diesem ersten Enthusiasmus. Viele osteuropäische Länder leiteten Reformen ein, die sie auf den Weg zu echten Marktwirtschaften und liberal-demokratischen politischen Systemen brachten. Die neu befreiten Menschen östlich des gefallenen Eisernen Vorhangs genossen ihre neuen Freiheiten. Und die Wirtschaften wuchsen rapide. Polen, die Tschechische Republik, Ungarn und andere wurden schnell zu Aushängeschildern des Liberalismus. Mit einem vollständig liberalen, kapitalistischen Europa in Sicht, wandten sich einige sogar neuen Regionen der Welt zu, um auch dort den Liberalismus zu verbreiten. In der Tat schien sogar das kommunistische China seine Liberalisierungsbemühungen fortzusetzen.
In vielerlei Hinsicht änderte sich mit der Finanzkrise von 2008 alles. Das Zeitalter des endlosen wirtschaftlichen Wohlstands schien vorbei zu sein, da der Markt nach Meinung vieler gescheitert war (obwohl eher Zentralbanken und staatlicher Interventionismus schuld waren). In den folgenden Jahren kam es zu vielen neuen Krisen, vor allem zur Eurokrise, die Millionen von Arbeitnehmern in Südeuropa in die Arbeitslosigkeit verbannte und eine „verlorene Generation“ junger Menschen hervorbrachte, die erst gar keine Arbeit fanden, sowie die Flüchtlingskrise, das erste deutliche Zeichen dafür, dass sich die Dinge schnell ändern würden.
Heute ist die Euphorie von 1989 weitgehend verflogen. Regierungen in Ungarn, Polen, Rumänien und in geringerem Ausmaß auch in vielen anderen osteuropäischen Ländern greifen seit vielen Jahren Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit, Redefreiheit und viele andere liberale Grundprinzipien an – ganz zu schweigen von den stetigen Rückschlägen in Richtung Autoritarismus in der Türkei und in Russland. In Ländern wie Polen scheint tatsächlich eine deutliche Ernüchterung über das liberale Projekt eingetreten zu sein. Noch am 13. Oktober ermöglichte das polnische Volk der Partei für Recht und Gerechtigkeit die absolute Mehrheit. Ein ähnliches Phänomen sollte man auch in Ostdeutschland nicht vergessen, das längst mit dem Westen vereinigt ist und dennoch oft an ihrer sozialistischen Vergangenheit festhält, der sie am 9. November erfolgreich entkommen war.
Diese beunruhigenden Entwicklungen sind nicht nur im Osten weit verbreitet. Der freimarktwirtschafliche Kapitalismus und bestimmte liberale Prinzipien haben im Allgemeinen einen deutlichen Rückgang in ihrer Popularität erfahren. In den USA wurde Donald Trump 2016 zum Präsidenten gewählt. Die traditionell marktfreundliche amerikanische Rechte setzt nun stattdessen auf nationalistischen Protektionismus. Im selben Jahr beschloss Großbritannien, die Europäische Union zu verlassen – und obwohl die liberale Vision eines „globalen Großbritanniens“ zweifellos ein wichtiger Bestandteil dieses Votums war, stimmten auch zahlreiche Brexiteers gegen Offenheit und freie Einwanderung und waren nicht besonders an Freihandel interessiert – also nicht in der Absicht, außerhalb der EU in die Fußstapfen von Adam Smith zu treten. Auch in Kontinentaleuropa, von Frankreich über Italien bis nach Deutschland, sind „populistische“ Parteien, die dem Liberalismus skeptisch gegenüberstehen, auf dem Vormarsch. In Italien erlangten sie für eine Weile die Mehrheit und bildeten eine Regierung.
Und wir sollten nicht vergessen, dass der Sozialismus kaum verschwunden ist. In den USA und Großbritannien haben stark-linke Stimmen die Demokratische und die Labour Parteien zu einem erschreckenden Ausmaß übernommen. Schlimmer noch, die Welt könnte einen Nachfolger der Sowjetunion im Fernen Osten beobachten. Die chinesische Regierung hat ihr Land in den letzten Jahren in vielerlei Hinsicht in einen Polizeistaat wie in den Albträumen von 1984 verwandelt und Millionen sind in Gefangenenlager geschickt worden. Dies erwähnt gar nicht erst die Niederschlagung von Protesten in Hongkong. Die Schrecken des Totalitarismus, so kann man an dieser Stelle sagen, sind mit aller Macht zurückgekehrt und werden sich höchstwahrscheinlich in den kommenden Jahren weiter verschlimmern.
30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs stellt sich mit Sicherheit die entscheidende Frage: Warum haben sich so viele Menschen, insbesondere im angeblich liberalen und kapitalistischen Westen, gegen den Liberalismus gewandt? Warum sind sie so desillusioniert? Warum wählen Menschen in ganz Europa und Nordamerika zunehmend illiberale Parteien? Warum geben sie ihnen, wie es in Ländern wie Ungarn, Polen und Italien der Fall ist, immer größere Mehrheiten und politische Dominanz?
Der Grund kann jedenfalls nicht sein, dass der Liberalismus dem Westen nicht genug Wohlstand verschafft hat. Osteuropa hat seit dem Mauerfall ein massives Wirtschaftswachstum verzeichnet – und tut es immer noch. Sicher, in den USA und in Westeuropa sind die Löhne besonders für Geringverdiener in den letzten Jahren stagniert – oder sind zumindest viel weniger stark gestiegen. Doch alles in allem hat der liberale Kapitalismus zu massiven materiellen Wohlstand für alle geführt, zu neuen Technologien, die unser Leben einfacher machen, und zu neuen Freiheiten, die zuvor unbekannt waren. Warum wollen die Leute also genau das System loswerden, von dem sie angeblich so enorm profitiert haben?
Stephen Davies vom Institute of Economic Affairs hat in den letzten Jahren eine „große Neuausrichtung“ in der westlichen Politik erkannt: Die Menschen, so argumentiert er, sind heute mehr an kulturellen und sozialen als an wirtschaftlichen Themen interessiert. Und in der Tat interessieren sie sich zunehmend für die kulturellen Auswirkungen, die Globalisierung und Massendemokratie haben. Sie interessieren sich selten für Konzepte der „Globalen Bürgerschaft“, bei denen lokale Identitäten durch ein weltliches Ganzes ersetzt werden, sondern für die Menschen in ihrer Umgebung. Sie sorgen sich um die Zerstörung von lokalen Gemeinschaften und Familien, darum, wie viele von ihnen zurückgelassen werden – Auswirkungen, die zum Teil auf staatlichen Interventionismus zurückzuführen sind, aber sicherlich auch auf die negativeren Auswirkungen der Globalisierung. Wie unzählige Berichte zeigen, fühlen sich heute ungewöhnlich viele Menschen einsam, entfremdet und zurückgelassen.
Und doch hat es an Antworten auf diese Probleme gefehlt. Liberale, das heißt diejenigen, die im Großen und Ganzen an Marktwirtschaft, Freihandel, freie Einwanderung und eine offene, globalisierte Welt glauben, haben sich stattdessen dazu entschieden, sich nicht um all diese Probleme zu kümmern. Sie sind jenen gegenüber, für die der Liberalismus eine Enttäuschung ist, selig ahnungslos oder sogar abweisend. Es besteht wenig Bedarf, den deplorables in den kleineren Ortschaften der USA zuzuhören – oder den Polen und Ungarn, wo Mehrheiten für illiberale Reformer stimmen, die sich des Systems entledigen wollen, von dem sie in materieller Hinsicht in den letzten Jahrzehnten so viel profitiert haben. Amerikaner aus ländlichen Gebieten ohne Job oder gesunde Gemeinschaften sollen endlich in die Städte ziehen statt nostalgisch zu sein.
Viele Anhänger der liberalen Ordnung haben stattdessen beschlossen, sich unverändert der Verkündigung des liberalen Evangeliums zu widmen. Wir müssen uns angeblich weiter daran erinnern, wie heute eindeutig das beste Zeitalter der Weltgeschichte ist – eine recycelte Variante der Whig-Geschichte, die sich für jeden lächerlich anhören muss, der sich mit etwas anderem als Wirtschaftsstatistiken beschäftigt.
In gewissem Sinne können wir sagen, wenn wir uns ansehen, warum die Menschen 30 Jahre nach dem Mauerfall vom liberalen Projekt so desillusioniert sind, dass der Liberalismus keine Antworten auf die Herausforderungen von heute geliefert hat. Vor dreißig Jahren war es notwendig, über Enlightenment Now (Aufklärung jetzt) zu dröhnen – aber heute erscheint man mit dieser Methode eher wie ein quasi-religiöser Gläubiger einer von Natur aus unvollkommenen politischen Theorie.
Heute brauchen wir Antworten auf eine ganze Reihe neuer Fragen. Zum Beispiel: Wie können wir in einer globalisierten Welt das angeborene menschliche Bedürfnis nach Verwurzelung und Zugehörigkeit lösen, das Bedürfnis, einen Ort zu finden, den wir wirklich „Zuhause“ nennen können? Wie kann der Liberalismus Probleme der Einsamkeit, Drogen- und Selbstmord-Epidemien lösen? Wie können lokale Gemeinschaften, Familien und soziale Institutionen wiederbelebt werden? Wie können wir eine gesellschaftliche Spaltung zwischen Stadt und Land verhindern?
Es ist nicht so, dass diejenigen, die dem Liberalismus folgen, keine Antwort auf diese Krisen hätten. Sie haben sie bisher einfach ignoriert und sich stattdessen weiterhin auf das Evangelium des Fortschritts und des Wohlstands im Geiste von 1989 konzentriert.
2019 ist ein wichtiges Jahr, um an das Ende der Sowjetunion und die damit verbundene Freiheit zu erinnern. Es ist ein wichtiges Jahr, um andere an die immensen Vorteile zu erinnern, die der Liberalismus mit sich gebracht hat – und uns weiterhin bringen kann, wenn wir an den Grundsätzen des Freihandels, der individuellen Freiheit und der dezentralen Gemeinschaften festhalten. Und doch ist es wichtig, den Liberalismus nicht einen der schlimmsten Fehler des Sozialismus begehen zu lassen: eine Ideologie, die sich mehr um sich selbst und die „Menschheit“ kümmert als um echte Menschen.
Mein Vorschlag für das Jubiläum lautet: Lasst das 30. Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer auch das Jahr sein, in dem wir weiterdenken und liberale, markwirtschaftliche und gemeinschaftliche Lösungen für die heutigen Herausforderungen formulieren, nicht für die vor 30 Jahren. Lassen Sie uns die moralischen, ethischen und kulturellen Argumente für eine freie Welt vortragen. Ein Liberalismus, der sich dem verweigert, wird zur Irrelevanz verdammt sein. Andernfalls könnte im schlimmsten Fall der Autoritarismus zurückkehren, weil wir nicht zugehört haben.
Kai Weiß ist Vorstandsmitglied beim Hayek Institut und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Austrian Economics Center.
Lesen Sie die Englische Version hier: Austrian Economics Center
Lesen Sie weitere Beiträge zum 30. Jahrestages des Mauerfalls hier!
Die Meinungen, die hier auf hayek-institut.at veröffentlicht wurden, entsprechen nicht notwendigerweise jenen des Hayek Instituts.
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