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Bericht: Philosophieseminar mit Wolfgang Wein

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Seminar

Visual Turn

DDr. Wolfgang Wein

Moderation: Scott Nelson, PhD

„Worin“ haben Menschen gedacht, bevor sich die Sprache wie wir sie heute kennen vor rund 50.000 Jahren entwickelt hat? Das war eine der Fragen, die sich für Wolfgang Wein am Beginn der Arbeit an seinem nunmehr in zweiter Auflage erschienenen Buch über den „Visual Turn“ gestellt haben. In seinem Werk wird das (wieder)entdeckte „visuelle Denken“, das eine Vorstufe der Sprache und des menschlichen Denkens darstellt, wieder in seine Rechte eingesetzt. Es wendet sich gegen die gerade vom Empirismus in der Vergangenheit eingeleitete Zurückdrängung des Rationalismus und möchte, basierend auf Platon, Descartes, Kant und Cassirer einen rationalistisch gewendeten und modernisierten Neukantianismus auf den Weg bringen. Denn Vernunft bleibt das Fundament jeder liberalen Ordnung und der Menschenrechte.

Wichtig war es für Wein, in den Neukantianismus die großen Veränderungen in den Wissenschaften wie der Genetik, der Molekularbiologie oder der Theorie des Sehens der letzten 20 bis 30 Jahre einzuarbeiten. Mit der Entdeckung des „Sprachgens“ (FOXP2) wurde zunehmend untermauert, dass der menschliche Spracherwerb, insbesondere die grammatikalischen Fähigkeiten, genetisch verankert sind. Die Entwicklung von Computerprogrammen ab 1980 habe, so Wolfgang Wein, zu einem völlig neuen Verständnis des menschlichen Sehprozesses geführt. Entgegen dem Glauben des Empirismus ist unser Sehbild keine passive Abbildung fotografischer Art, sondern interpretativ konstruiert. Diese „Grammatik des Sehens“ impliziert eine Ordnung des Sehens, die sich in die Grammatik der Sprache transponiert hat und so „haben wir geistig verankerte Denk- und Ordnungsfunktionen, die in ihrer Entwicklung evolutionär ableitbar sind und trotzdem kritisch idealistisch bleiben.“

Der sich in den letzten Jahren immer stärker durchsetzende „Nativismus“ – die Ansicht also, dass viele Formen von Wissen dispositionell angeboren sind – haben Wolfgang Wein dazu inspiriert, die großen Philosophen Platon, René Descartes, Immanuel Kant und Ernst Cassirer in eine Linie zu bringen: Alle vier sind Idealisten, alle im Kern Rationalisten, orientieren sich an Geometrie und Mathematik und sind Vorkämpfer der Vernunft, bei denen sich „zentrale Elemente des visuellen Denkens“ finden. Was ist dispositionell angeboren? Etwa die Tiefenstruktur der Grammatik, die Zahlen von 1 bis 3 und bis zu 60 % der Intelligenz. Die Frage, ob Intelligenz angeboren ist oder nicht, bleibt laut Wein „ein ideologisches Schlachtfeld“.

Keine „leere Platte“ im Kopf

Mit dieser skizzierten Ausgangslage setzt sich Wolfgang Wein kritisch mit dem Empirismus von Locke und Hume, dem Realismus von Karl Popper oder dem Materialismus von Feuerbach auseinander. Der Empirismus/Positivismus habe zwei grundlegende Dogmen: Es gibt kein angeborenes Wissen, der menschliche Geist beginnt als „leeres Blatt“, wie eine leere Speicherplatte. Und alle Erkenntnis kommt ausschließlich aus der passiven Sinneswahrnehmung.  Diese Annahmen führen jedoch „zu einem großen Problem: den Geist kann ich nicht sehen und wer hat jemals die leere Platte gesehen?“ Zudem bezweifelt der Empirismus intuitive Einsichten und erklärt, dass Erkenntnis nur durch schrittweise, empirische Experimente und Beobachtungen gewonnen werden kann. Außerdem wurde behauptet, dass es keine Ichfunktion gäbe. Was jedoch zum „Scheinwerfer-Problem“ führt: Der mit dem Scheinwerfer Suchende kann, weil hinter dem Scheinwerfer stehend, sich selbst, sein eigenes Ich, nicht finden.

Demgegenüber steht der (kritische) Idealismus von Platon, Descartes, Kant etc., der besagt, dass die grundlegenden Denkformen dispositionell angeboren sind, die „Grundlagen des Hausverstandes sind angeboren“. Wir kommen „also nicht mit einer leeren Platte auf die Welt.“ Wein vergleicht dies mit einem Computer: Dieser könnte mit einer leeren Festplatte ohne Betriebssystem nicht hochfahren, ein solches muss vor dem Einströmen von Daten vorhanden sein. Das heißt, das menschliche Gehirn braucht a priori ein grundlegendes, vorhandenes Programm, das dann die Sinneswahrnehmungen erst verarbeiten kann (bei Kant figuriert dies als „reine Vernunft“ a priori).

Erkenntnis gewinnt man demnach in weiterer Folge mittels denkerischer Einsicht (wie bei einem Aha-Erlebnis). Ganz wichtig dabei sei: „Dinge erkennt man anhand ihrer Funktion, nicht nur an deren Aussehen.“ Der große Fehler des Empirismus sei, dass „dieser immer von der Sinnesanmutung bereits bekannter Objekte ausgeht und sich dadurch selbst täuscht.“ Wenn man nur das Äußere sieht, aber nicht die Funktion erkennt, dann gibt es keinen Erkenntnisgewinn, was „schon Platon erkannt hat“.

Sinneswahrnehmungen sind ein unverzichtbarer Ausgangspunkt, neue Erkenntnis gewinnt man aber nur mittels logischer Denkfunktionen (bei Kant sind dies die Kategorien). Für Idealisten existiert die reale Welt, aber sie kann nie zu 100 Prozent erkannt werden, wie sie ist. Empiristen hingegen meinen die reale Welt direkt zu erkannen „wie sie ist“.

Selbsttäuschung

Die modernen Wissenschaften haben, so erklärt es Wolfgang Wein, die Annahmen des Empirismus praktisch widerlegt. So spricht man heute etwa auch von einem „Mathe-Gen“, geometrische Grundformen wie Kreis und Dreieck sind ebenso angeboren. So sei zum Beispiel der britisch-amerikanische Philosoph Peter Carruthers – ein „eingefleischter Empirist“ – zu der Einsicht gelangt, dass „der Empirismus zu verabschieden ist.“ Es gebe so viel Evidenz für angeborenes Wissen, dass die These von der „leeren Platte“ nicht mehr haltbar sei.

Empirismus, Naturalismus oder Materialismus verfügen über einen Selbsttäuschungsmechanismus, nach dem Motto „Das sehe ich doch!“. Es werde demnach immer anhand von Beispielen argumentiert, welche schon vertraut sind, von Dingen, die man schon kennt: „Wenn ich die Funktion schon durchschaut habe, dann weiß ich natürlich, dass dies ein Tisch ist – dann kann ich sagen, ich sehe das, weil ich es schon kenne.“ Heute weiß man jedoch, dass diese Abbildung nicht funktioniert, dass es sich vielmehr um eine Interpretation der erscheinenden Realität handelt („Impossibility of visual perception“).

Schon Descartes hat 1641 Folgendes formuliert: „Erkenntnis ist nicht ein Sehen, ein Berühren, …, sondern sie ist eine Einsicht einzig und allein des Verstandes, die entweder unvollkommen und verworren oder klar und deutlich sein kann. Und so erkenne ich das, was ich mit meinen Augen zu sehen vermeinte, einzig und allein durch die meinem Geist innewohnenden Fähigkeiten zu urteilen.“ Perfekte Dinge – wie zB. die geometrische Figur eines Kreises – existieren daher nur im Denken, sie sind „wahrer“ als die nie perfekten Dinge.

Descartes sagt auch: „Ich finde in mir zwei Ideen der Sonne, eine von den Sinnen her, eine von den Berechnungen meines angeborenen Verstandes – die der Sinne ist weniger wahr!“ Meinen Sinnen erscheint die Sonne etwa zwei Zentimeter groß, aber meine Berechnungen führen zu dem Schluss, dass die Sonne um ein Vielfaches größer ist als die Erde. Die Berechnung meiner Vernunft, so Wein, ist „also wahrer als meine Sinnesempfindung.“

Vernunft auf solidem Fundament

Und das ist wiederum das Wesentliche, das auch Immanuel Kant sagt: Auf der einen Seite die Sinneserscheinung, auf der anderen Seite die mathematischen Berechnungen, die mir sagen, meine Sinneswahrnehmung ist falsch, die Sonne ist wesentlich größer. Und dann haben wir die Sonne, wie sie ist: „Da würde Kant einwenden, das ist das ‚Ding an sich‘, welches wir nie vollständig erkennen können.“ Denn wer kann jedes Molekül, Atom, Teilchen etc. der Sonne wissen? Niemand.

Die Vernunft, ein rationalistischer Neukantianismus, steht sowohl logisch, erkenntnistheoretisch als auch evolutionsbiologisch auf einem extrem soliden Fundament, sagt Wolfgang Wein. Alle weiteren Details dazu finden sich auf den 800 Seiten seines Buches „Visual Turn- Die Wende von Empirismus, Analytischer Philosophie und Naturalismus zu einem rationalistischen Neukantianismus“.

 

Zum Autor:

Wolfgang Wein promovierte 1982 zum Dr. med. und dissertierte parallel dazu in der Philosophie. Es folgten mehrere philosophische Monographien. Seit 1993 ist er in der Pharmaindustrie tätig, war Europachef für Onkologie in UK, Launch Lead in Japan und globaler Leiter der Onkologie- Sparte in Deutschland. Er ist Mitglied des Vorstands der Pharma-Division bei MERCK. 2019 wurde ihm das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst verliehen.

 

Die Meinungen, die hier auf hayek-institut.at veröffentlicht wurden, entsprechen nicht notwendigerweise jenen des Hayek Instituts.

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