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15.04.2015
„Brexit“ oder „Fixit“

„Brexit“ oder „Fixit“
Gewinnt David Cameron die Wahlen, lässt er die Briten 2017 über einen EU-Austritt abstimmen. Will der britische Premier die EU nur erpressen oder will er sie wirklich reformieren?
von Raoul Sylvester Kirschbichler
Was steckt hinter den EU-Austrittsüberlegungen von David Cameron? Ein wahltaktisches Manöver oder ein politischer Erpressungsversuch? Vielleicht möchte David Cameron das EU-Thema politisch einfach nur gut besetzt wissen, weil ihm die europafeindliche United Kingdom Independence Party (UKIP) im Nacken sitzt. Bei der Europawahl kamen die EU-Skeptiker, angeführt von ihrem rechtspopulistischem Vorsitzenden Nigel Farage (MdEP), auf erstaunliche 27,5 Prozent; Labour lediglich auf 25,4 Prozent. Bei den regierenden Torries hielten sich die Verluste mit minus 3,3 Prozent in Grenzen – die Konservativen kamen schließlich auf 23,9 Prozent.
Weder war der Triumph der Independence Party überraschend, noch lässt sich aus dem Europa-Wahlergebnis auf die Parlamentswahlen im kommenden Frühjahr schließen. Denn bei den Unterhauswahlen gilt das Mehrheitswahlrecht, das etablierte Parteien eindeutig bevorteilt. Zudem werden nun wieder nationale Themen wie das britische Gesundheitswesen und die Zukunft des Bildungswesens debattiert, die UKIP-Apelle an fremdenfeindliche Instinkte rücken ein wenig in den Hintergrund. Trotzdem wird die UKIP in einzelnen Wahlkreisen gewinnen. Erst vor wenigen Wochen brachte sie bei einer Nachwahl zum Unterhaus ihren ersten Abgeordneten ins Parlament. Die Vorherrschaft von Torries und Labour neigt sich dem Ende zu. Ein Unterhaus ohne die absolute Mehrheit einer Partei („hung parliament“) spielt vor allem der UKIP in die Hände, ihr Parteichef Nigel Farage würde automatisch über die künftige Regierung mitentscheiden.
„ I will get what Britain needs“
Doch so weit darf es, solange es noch nach David Cameron geht, erst gar nicht kommen. Um den EU-Pessimisten über alle Parteigrenzen hinweg politisches Terrain abzugraben, kündigte er bereits im Jänner 2013 an, ernsthaft Verhandlungen über eine Reform des britischen Verhältnisses zur Europäischen Union in Angriff zu nehmen. Zudem: Sofern er die Wahlen gewinnt, sollen die Briten bereits 2017 – im Rahmen eines Referendums – selbst darüber entscheiden, ob das Vereinte Königreich Mitglied der Europäischen Union (seit 1973) bleiben soll oder nicht.
Rund 67 Prozent befürworteten eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union, als Premierminister Harald Wilson 1975 über einen Brexit abstimmen ließ. Und Margaret Thatcher erpresste Brüssel mit dem Slogan „I want my money back“ und hat so einen gewaltigen Beitragsrabatt für die Briten herausgeschlagen. Doch einen Grundpfeiler der Europäischen Union hat vorher noch kein britischer Premierminister in Frage gestellt: Aus dem Freizügigkeitsquartett – Kapital, Güter, Dienstleistungen und Menschen – möchte Cameron die Bewegungsfreiheit der Arbeitskräfte herausnehmen und verkündet in überzeugender Thatcher-Diktion: „I will get what Britain needs!“
Die HIV-Wahlkampfhetze
Natürlich kann man Cameron vorhalten, seit knapp zwei Jahren im rechten Lager auf Stimmenfang zu gehen. Andererseits ist der wachsende Unmut der Briten über die zunehmende Einwanderung ein Faktum, das sich schon lange nicht mehr weg argumentieren lässt: Von 1991 bis 2003 kamen rund 61.000 Migranten jährlich aus der Europäischen Union nach England; seit 2004, seitdem weitere acht Staaten der EU beigetreten sind, sind es 170.000 pro Jahr. Aus dem britischen Unmut wurde Panik, die vor allem vom UKIP-Führer Nigel Farage geschürt wird, der in den Ausländern die Wurzel allen Übels sieht. Selbst die künftige Finanzierung des britischen Gesundheitswesens verknüpfte er bei der jüngsten Fernsehdebatte aller Spitzenkandidaten mit den ungeliebten Ausländern:
„Jedes Jahr gibt es in Großbritannien 7.000-mal die Diagnose ´HIV positiv´. Das ist keine gute Nachricht, für niemanden, ich weiß“, fuhr der UKIP-Chef fort, um dann den Ausländern erneut das Messer anzusetzen: „60 Prozent dieser Leute sind nicht britische Staatsbürger. Sie können von irgendwoher in der Welt kommen, sich als HIV positiv diagnostizieren lassen und das antivirale Medikament bekommen, das pro Jahr und Patient bis zu 25.000 Pfund kostet.“
Als banale Angstmacherei, die von den Briten schnell als Wahlkampfpropaganda durchschaut wird, lassen sich die Wortmeldungen von Nigel Farage aber nicht abqualifizieren. In allen Blitzumfragen, die unmittelbar nach der Fernsehdebatte durchgeführt wurden, rangiert der Rechtspopulist unter den besten Drei. Eine ComRes-Erhebung für den Sender ITV, der die TV-Konfrontation ausstrahlte, hatte ergeben: Regierungschef David Cameron (Torys), Ed Miliband (Labour), Nicola Sturgeon (SNP) und Rechtspopulist Nigel Farage von der United Kingdom Independence Party (UKIP) lagen gleichauf. Sicher ist: Der Wahlausgang ist völlig offen.
Die Migrations-Fakten
Auch deshalb, weil viele Fakten in der britischen Migrations-Debatte unberücksichtigt bleiben:
- Die EU-Immigranten in Großbritannien, sie sind oftmals sehr gut ausgebildet, zahlen deutlich mehr an Steuern, als sie an Sozialleistungen in Anspruch nehmen.
- In vielen verschiedenen empirischen Studien gibt es keine Hinweise darauf, dass die Migranten die Arbeitslosenzahlen erhöhen oder die Löhne drü
- Darüber hinaus ist auch Großbritannien vom demographischen Wandel erfasst und benötigt, ähnlich wie Deutschland, qualifizierte Zuwanderung. Falls Großbritannien nicht mehr an die EU-Freizügigkeit gebunden ist, könnten sich aus selbst definierten Einwanderungsbeschränkungen politische Vorteile aber auch wirtschaftliche Nachteile ergeben.
Wer 2017 über den Weiterverbleib Großbritanniens in der Europäischen Union abstimmen möchte bzw. wem es um eine Neugestaltung des britischen Verhältnisses zur EU geht, der sollte am 7. Mai die regierenden Tories wählen. Denn die Regierungspartei deckt viele Möglichkeiten ab.
In Brüssel werden die Anliegen Camerons gerne auf „Entweder ihr macht, was ich sage, oder ich gehe“ reduziert. Was viele EU-Bewahrer gerne überhören, dass es Cameron um politische Inhalte geht, die ihn zutiefst bewegen, um ein Bekenntnis zu einem Europa, das, wie die letzten Jahre eindeutig gezeigt haben, neu gestaltet werden muss. Margarete Thatcher hat bereits am 20. September 1988 in ihrer ´Speech to the College of Europe´(The Bruges Speech) formuliert, was auch Cameron heute denkt: „Großbritannien träumt nicht von einer bequemen, isolierten Existenz am Rand der Europäischen Gemeinschaft. Unsere Geschicke liegen in Europa, wir sind Teil davon.“
Die EU, der Illusions-Weltmeister
In Großbritannien wächst verständlicherweise die Enttäuschung über die Europäische Union. Die Perspektive, die im Jahr 2000 in der Deklaration des Europäischen Rates in Lissabon festgeschrieben wurde, war großkotzig und abgehoben zugleich. Im Artikel 59 hatten die Staats- und Regierungschefs festgeschrieben, “die Europäische Union bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen – zu einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen.“ Bereits ein Jahr später hatte sich Griechenland mit falschen Angaben über seine Haushaltsdefizite von 1997 bis 1999 (sie lagen laut Eurostat in Wirklichkeit über 3 Prozent des BIP) einen Euro-Beitritt erschwindelt. Der Rest ist Geschichte, die tag täglich zu dringendem Handeln aufruft.
Wer weiterhin an der Währungsunion festhalten möchte, der vereinheitlicht die Fiskalpolitik im Euro-Raum. Sobald sich der Euro-Kern verfestigt hat, müssen die Beziehungen zu den EU-Mitgliedern außerhalb der Euro-Zone neu gestaltet werden. Der britische Regierungschef ist der erste, der das Thema unter dem Begriff „Repatriierung von Kompetenzen“ aufgreift und daraus Fragen formuliert, die Brüssel vor den Kopf stoßen. Dabei hat Europa, nicht nur die Euro-Zone, eine breite Debatte über seine künftige Ausrichtung dringend nötig. Im euroskeptischen Großbritannien sind Ideenwettbewerbe, die sich mit dem Kollaps der Eurozone, dem Ausstieg aus dem Euro oder dem Austritt Großbritanniens aus der EU befassen sehr populär:
Das „Institute for Economic Affairs“ hatte einen Wettbewerb zum Thema „Brexit-Szenarien“ ausgeschrieben. Den mit 100.000 Pfund dotierten Preis erhielt der britische Diplomat Iain Mansfield. In seiner Studie „Offenheit statt Isolation“ argumentierte Mansfield mit den positiven wirtschaftlichen Folgen, die ein BrExit mit sich bringt. Seine Schlussfolgerung: „Das Resultat (eines EU-Austritts) wäre eine beschleunigte Verlagerung der Ausfuhrströme, weg von der Europäischen Union in Richtung Schwellenländer.“
Der Rosinenpicker
Cameron als Erpresser abzustempeln, wie es in Brüssel gerne gemacht wird, ist auf jeden Fall einfacher, als seine Reformvorschläge aufzugreifen. Es geht ihm auch um flexiblere Strukturen der Zugehörigkeit zur Union und zur Euro-Zone. Seine Hoffnung auf weit greifende EU-Reform als „Rosinenpickerei“ abzutun, zeigt von Unverständnis und von sehr wenig diplomatischem Fingerspitzengefühl in Brüssel.
Die Europäische Union ist längst ein Europa à la carte: 17 (aus 27) Staaten gehören zur Euro-Zone, Irland und Großbritannien stehen außerhalb von Schengen, Schweden und Dänemark haben ihre eigenen Opt-outs*. Zum Glück ist das Gerede rund um ein Europa der „unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ verstummt. Es hatte suggeriert, alle strebten zum gleichen Ziel. Dem ist aber nicht so. Auch deshalb, weil es kein gemeinsames Bekenntnis zu notwendigen Reformen gibt.
(* Opt-outs in the European Union: In general, the law of the European Union is valid in all of the twenty-eight European Union member states. However, occasionally member states negotiate certain opt-outs from legislation or treaties of the European Union, meaning they do not have to participate in certain policy areas.)
Während Frankreichs Wirtschaftspolitik mittlerweile dem Süden der Europäischen Union zuzuordnen ist, kommen aus dem EU-Norden (Großbritannien miteingeschlossen) die dringend notwendigen Reformvorschläge. Doch in altbewährter Bewahrer-Manier befürchten vor allem französische Minister, dass Kritik das europäische Haus zum Einsturz bringen könne. Doch genau genommen riskiert die Europäische Union einen Einsturz des Hauses Europas, wenn sie die konstruktiven Vorschläge noch länger ignoriert.
Camerons Fehler
Was können Merkel und Co. dem britischen Regierungschef letztendlich wirklich vorwerfen? Dass er die Schwächen der Europäischen Union unmissverständlich aufdeckt und für sein Land ein Austritts-Referendum ins Auge fasst, sollte Europa aus der Wirtschaftskrise nicht die richtigen Lehren ziehen und dementsprechend handeln? Nein, sicher nicht. Was ihm wirklich vorzuwerfen ist: Cameron hätte die britische Europa-Debatte, die ihn innenpolitisch so unter Druck setzt, in eine europäische Europa-Debatte umwandeln können. Größere Staatsmänner hätten die politische Chance, die sich daraus ergibt, erkannt – und Allianzen geschmiedet. Die letzten Verhandlungen zum EU-Haushalt haben gezeigt, dass die Briten gar nicht so isoliert sind, wie in Brüssel gerne behauptet wird. So aber wirkt Großbritannien wie ein Reisender, der gar nicht aufgehalten werden will, während die „echten Europäer“ endlich ohne Störenfriede ans Werk gehen können, um den Status quo zu prolongieren. Zugegeben: Ein Schulterschluss mit Cameron wäre leichter möglich gewesen, wenn der Brite „nur“ problematische Bürokratieauswüchse zusammenstutzen möchte. Aber es geht ihm um einen tragenden Pfeiler der europäischen Architektur, es geht um die Freiheit des Personenverkehrs, die er aus dem Freizügigkeitsquartett herauslösen möchte.
Die Last der EU-Bürokratie
Kommissionspräsident Jean Claude Junker hat bereits unmissverständlich klar gemacht, dass er nicht bereit ist, auf diese wichtige Säule zu verzichten bzw. unverantwortliche Kompromisse zu schließen. Junker hatte sich schon früher nicht sehr pro-britisch geäußert und wird von der britischen Presse zur Galionsfigur des Brüsseler Zentralismus aufgebaut. Letztendlich war es aber Cameron, der sein Land in der Nähe des Exit positioniert hat. Auch deshalb, weil er die EU-Bürokratie als überdimensionale Last empfindet, die die britischen Unternehmer einschränkt: Viele ernst zu nehmende Unternehmen sind überzeugt, dass sie ohne EU-Verordnungen profitabler wirtschaften könnten. Doch würde das Königreich wirklich aufblühen, wenn es von den Unionslasten befreit wird?
Wer die Regulierungen von Produkt- und Arbeitsmärkten in Großbritannien genauer unter die Lupe nimmt und sie mit Kanada oder Australien vergleicht, der wir keine großen Unterschiede erkennen. In diesem Zusammenhang darf auch nicht übersehen werden, dass jedes Land, das mit der Europäischen Union Handel treiben möchte, sich den EU-Richtlinien unterwerfen muss. Das wird den Briten auch im Fall eines Austritts also nicht erspart bleiben. Größter Unterschied: Großbritannien würde außerhalb der EU auf diese Regeln keinen Einfluss mehr haben.
Das Spiel mit dem Feuer
Über die Hälfte der britischen Exporte ist für die Europäische Union bestimmt. Höhere Steuern, und Zölle, grundsätzlich weniger Handel mit Europa würden das Königreich hart treffen: Das „Centre of Economic Performance“ an der London School of Economics prognostiziert Einbußen von 1,1 bis sogar 9,5 Prozent des BIP. Zwar erspart sich Großbritannien als EU-Nettozahler rund 8,6 Milliarden Pfund (10,6 Milliarden Euro) Beitragszahlungen, doch unter dem Strich würden eindeutig die Nachteile eines EU-Austritts überwiegen.
Ein BrExit ist und bleibt also ein sehr riskantes Spiel, das auf jeden Fall mit beachtlichen Kosten verbunden ist. Vor allem der Finanzsektor müsste sich auf gigantische Verluste einrichten, weil er besonders stark vom europäischen Binnenmarkt abhängig ist. Bis zum heutigen Tag ist der Finanzplatz London ein entscheidender Wirtschaftsfaktor, nicht nur für Großbritannien, sondern für ganz Europa, weil London die erste Anlaufadresse für internationale Investoren ist.
Eine neue Kernbotschaft
Die EU-Partner werden sich also darauf einstellen müssen, dass das britische Volk den Schritt in die vermeintliche Freiheit einer „prosperierenden Welthandels-Nation, die sich aus den Fesseln der EU-Verordnungen und EU-Dogmen unbedingt befreien möchte, wirklich riskiert – so zumindest der Traum der Europa-Skeptiker. Noch übt sich die britische Wirtschaft in großer Zurückhaltung. Schließlich sind die Wahlen noch nicht geschlagen, ein mögliches Austritts-Referendum immer noch reine Theorie.
Man muss kein großer Prophet sein, um vorhersagen zu können, dass sich ein großer Teil der freien britischen Wirtschaft für einen Verbleib in der Europäischen Union einsetzen wird. Aber genau solche Unterstützungserklärungen spielen den EU-Gegnern in die Hände, die immer wieder darauf hinweisen, dass die Europäische Union auf dem besten Weg ist, sich zu einem Europa der Eliten zu entwickeln und das wahre Großbritannien in Brüssel nicht wirklich verstanden wird.
Die Kernbotschaft muss mehr beinhalten als wirtschaftspolitische Argumente. Sie muss darlegen, dass es für alle Briten, wahrscheinlich sogar für alle EU-Bürger, wichtig ist, dass die Europäische Union unter der Federführung Großbritanniens reformiert wird. Die rigorose Spar- und Bewahrer-Politik bremst Europas Entwicklungsmöglichkeiten. Immer noch! Die übereifrigen Harmonisierer, die momentan den Ton angeben, gehören abgelöst. Alternativlosigkeit hat sich noch nie bewährt.
Europa lebt von seinen Unterschieden, von seiner Vielfalt, auch von seiner politischen Ideenvielfalt. Die Ungleichheit muss bewahrt werden. Ausgenommen ist selbstverständlich jener ökonomische Leichtsinn, der zur Bedrohung für den ganzen Euro-Raum wurde.
Sollten die Briten – nach einem Wahlsieg Camerons – tatsächlich darüber abstimmen, ob sie dem heutigen EU-Europa noch länger angehören wollen, dann ist auch der Zeitpunkt gekommen, die übrigen Europäer einmal nach ihrer Meinung zu fragen.
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Magaret Thatcher Foundation:
Speech to the College of Europe („The Bruges Speech“):
Die Meinungen, die hier auf hayek-institut.at veröffentlicht wurden, entsprechen nicht notwendigerweise jenen des Hayek Instituts.
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