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10.12.2014
BREXIT

Premierminister David Cameron möchte die Reisefreiheit in der EU reformieren. Ansonsten ist ein EU-Austritt sehr wahrscheinlich. Was würde Britains Exit bedeuten?
von Raoul Sylvester Kirschbichler
Wissen wir, was der Britische Premierminister David Cameron wirklich möchte? Kann er eindeutig sagen, was er von der Europäischen Union erwartet, oder sind seine Austrittsdrohungen nur überzogene Wahlkampfrhetorik? In seiner Rede vor den Beschäftigten einer Baumaschinenfabrik in Mittelengland ist Cameron ein wenig klarer geworden: Er möchte, dass die Europäische Union nach seinen Vorstellungen reformiert wird. Im Mittelpunkt der wichtigsten Überlegungen steht die Zuwanderung.
Quantensprung Quotenregelung
Also genau jenes Thema, das immer wieder von der europafeindlichen United Kingdom Independence Party aufgegriffen wird. Ihr vorrangiges Ziel ist der Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union. Sie gilt als rechtspopulistisch, wird aber genau so gerne auch als radikal-liberal bezeichnet. Bei der EU-Wahl im letzten Mai hat die United Kingdom Independence Party (UKIP) bereits 26,6 Prozent der Stimmen bekommen. Und vor wenigen Wochen hat sie bei einer Nachwahl zum Unterhaus ihren ersten Abgeordneten ins Parlament gebracht.
UKIP-Chef Nigel Faragel glaubt nicht daran, dass die Europäische Union ihre Einwanderungspolitik reformieren wird. Aus diesem Grund wird Großbritannien aus der Europäischen Union austreten müssen, möchte es die Zuwanderung wirklich kontrollieren können. Das Prinzip der Reisefreiheit ist den Briten ein Dorn im Auge. Seit dem Jahr 2004, als insgesamt acht Länder der Europäischen Union beitraten, kommen jährlich rund 170.000 Migranten auf die Insel. (Von 1991 bis 2003 waren es lediglich 61.000 pro Jahr). Da die britische Wirtschaft boomt, boomt auch die Einwanderung, vor allem aus den krisengeschüttelten Ländern des Kontinents.
Genau diese Statistiken bringen Premierminister David Cameron in größte Bedrängnis. Deswegen hat der britische Regierungschef auch prüfen lassen, ob er nicht doch eine feste Quote für Zuwanderer aus anderen EU-Ländern festschreiben kann. Dass er dabei den freien Personenverkehr, also einen tragenden EU-Pfeiler kurzerhand infrage stellt, war und ist ihm durchaus bewusst. Das verlangt der britische Wahlkampf, der sich um die Zuwanderung dreht. Deshalb muss Cameron der Europäischen Union gelegentlich auch die kalte Schulter zeigen, ihr oftmals mit Zuckerbrot und Peitsche begegnen, möchte er die Wahlen im kommenden Frühjahr gewinnen. Vermutlich werden die Stimmen der EU-Skeptiker darüber entscheiden, ob David Cameron in Downing Street 10 wohnhaft bleibt oder nicht.
Die strikten EU-Gegner, die EU-Austrittsfanatiker sind überzeugte Anhänger der United Kingdom Independence Party. Ihnen ist der Zickzack-Kurs des Premierministers mittlerweile zu tiefst zu wider. Ihr Ziel bleibt ein Austritt, ohne Wenn und Aber. Doch Umfragen haben mittlerweile aufgezeigt, dass die Briten lieber den Status quo beibehalten möchten, als sich in allzu große Ungewissheit zu stürzen. Vor allem dann, wenn die EU-Gegner keine überzeugenden Alternativen zu einer EU-Mitgliedschaft anbieten können. Völlig untergegangen ist bisher die Tatsache, dass die hohen Einwandererzahlen aus der Europäischen Union dem Vereinigten Königreich auch großen ökonomischen Nutzen gebracht haben.
Camerons Gleichung
Dass die Europäische Union keinen Millimeter von einem seiner vier Grundprinzipien abrücken wird, nur weil die Zuwanderung aus den östlichen EU-Ländern (in Großbritannien) zunimmt, dürfte Cameron mittlerweile eingesehen haben. So verwundert es auch nicht, dass er von seiner Forderung, eine Quotenregelung für die Einwanderer aus den EU-Staaten einzuführen, wieder abgerückt ist. Nun soll eine drastische Kürzung der Sozialleistungen helfen, die Zuwanderung in den Griff zu bekommen. Camerons Gleichung ist einfach: Weniger Sozialleistungen gleich weniger Einwanderung.
Konkret bedeutet das: Sollten Zuwanderer innerhalb von 6 Monaten keinen Job gefunden haben, dann soll die Möglichkeit bestehen, sie in ihr Heimatland zurückschicken zu können. Frühestens nach vier Jahren können EU-Zuwanderer von Steuerfreibeträgen, von Lohnzuschüssen für Geringverdiener sowie vom Wohngeld profitieren können. Eingewanderte Familien, deren Kinder nicht in Großbritannien leben, sollen künftig kein Kindergeld mehr erhalten.
Camerons Ziel ist es, diese Reformen so zu verhandeln, dass sie künftig für die ganze EU gelten. Seine große Hoffnung ist, dass seine Vorschläge einerseits Rücksicht auf die Besonderheiten des britischen Sozialstaates nehmen, andererseits sich auch mit den politischen Rahmenbedingungen und Ideen anderer EU-Staaten vereinbaren lassen. Die EU-Kommission hat versprochen, die Vorschläge aus London sorgfältig prüfen zu wollen. Sollte Cameron allerdings nicht erhört werden, was zu erwarten ist, so kann sich der britische Premier auch vorstellen – sofern er die Wahlen im nächsten Jahr gewinnt – einen EU-Austritt zu unterstützen. Über die Frage, ob das Vereinigte Königreich Mitglied der EU bleiben soll oder nicht, möchte Cameron im Jahr 2017 abstimmen lassen.
Alle britischen Regierungschefs nach Edward Heath waren, wenn überhaupt, nur halbherzige Europäer. Harold Wilson hatte bereits 1975 über eine Mitgliedschaft abstimmen lassen: 67 Prozent befürworteten damals eine EU-Mitgliedschaft. Margaret Thatcher erpresste Brüssel mit dem Slogan „I want my money back!“ und konnte so die Beitragszahlungen der Briten drastisch reduzieren.
Kein britischer Premierminister ging aber je so weit wie David Cameron, der jetzt eine der vier EU-Grundfreiheiten, die Reisefreiheit, nach britischen Vorstellungen reformieren möchte. In bekannter Wahlkampfrhetorik verkündet er selbstbewusst: „I will get what Britain needs.“ („Ich werde bekommen, was England braucht“). Die Antwort des neuen Komissionspräsidenten Jean Claude Juncker war ebenso eindeutig: „Was die Freizügigkeit innerhalb Europas anbelangt, so war dies von Anfang an ein Grundprinzip der EU. Ich bin nicht bereit, daran etwas zu ändern, denn wenn wir die Freiheit des Personenverkehrs abschaffen, dann werden andere Freiheiten demnächst auch fallen. Deshalb bin ich nicht bereit, unverantwortliche Kompromisse zu schließen.“
Umfragen zeigen, dass sich die Briten durchaus vorstellen können in der EU zu bleiben, wenn den Bürgern vermittelt wird, dass Cameron „einen guten Deal“ ausgehandelt hat. Wie er seine Ziele in Brüssel erreichen möchte, bleibt allerdings noch ein Rätsel. Schließlich geht es nicht um den Abbau problematischer Bürokratieauswüchse, die der Premierminister kurzerhand beseitigen möchte – dafür würde er schnell viele Verbündete finden; aber es geht um einen tragenden Pfeiler der europäischen Architektur, den er im Interesse Großbritanniens umstrukturieren bzw. aushöhlen möchte, wie die Cameron-Gegner in Brüssel überzeugt sind.
Die Brexit-Folgen
Londons Bürgermeister Ben Johnson ist überzeugt, dass ein gutes Verhandlungsergebnis vor allem dann zu erreichen ist, wenn Großbritannien keine Angst vor einem Austritt habe. Er hatte eine Studie in Auftrag gegeben, die sich mit den Konsequenzen eines möglichen EU-Austritts bzw. mit den notwendigen EU-Reformmaßnahmen beschäftigt. Der Bericht formuliert insgesamt acht Forderungen, die weit über die Anliegen Camerons hinausgehen. Dabei wird vor allem die künftige wirtschaftliche Entwicklung Londons unter die Lupe genommen. Die Hauptstadt trägt mehr als ein Fünftel zur Wirtschaftsleistung des Landes bei.
London könnte seine Wirtschaftsleistung von derzeit 350 Milliarden Pfund (438 Milliarden Euro) bis zum Jahr 2034 auf 640 Milliarden Pfund steigern. Voraussetzung ist, dass Großbritannien im Rahmen einer reformierten Europäischen Union seinen Handel mit Drittstaaten ausbaut. Sollte die Europäische Union verbissen an ihrem Status quo festhalten, so würde die Wirtschaftsleistung Londons (bis 2034) lediglich auf 495 Milliarden Pfund klettern, schätzen die Autoren der Studie. Das Vereinigte Königreich, selbst wenn es die EU verlässt, darf immer noch mit einer Wirtschaftsleistung von rund 614 Milliarden Pfund rechnen.
Die genauen Auswirkungen werden aber davon abhängen, wie Großbritannien – nach einem EU-Austritt – sein Verhältnis zu Brüssel gestalten möchte. Die Briten gehen davon aus, dass sie mit einem Handelsbilanzdefizit von 64 Milliarden Pfund (80 Milliarden €) für die Kontinental-Europäer ein zu wichtiger Kunde sind, um irgendwelche Handelsbarrieren fürchten zu müssen. Doch ein voller Marktzugang ohne Auflagen, nach einem Austritt, ist trotzdem nicht vorstellbar. Dasselbe gilt umgekehrt für britische Finanzdienstleistungen – Großbritanniens wichtigstes Exportprodukt. Der Standort London als Headquater Internationaler Unternehmen für Europa würde viel an Attraktivität einbüßen. Im Fall eines Brexits werden sogar dem Britischen Pfund harten Zeiten vorhergesagt: Unzählige Finanzaktivitäten würden sich von London in die Euro-Zone verlagern.
Hat das Vereinigte Königreich innerhalb der EU kein Veto-Recht mehr, könnten Cameron & Co. britische Interessen auch nicht mehr verteidigen. Auch in der WTO könnte es bei einem EU-Austritt für die Briten schwieriger werden. In den komplexen Verhandlungen über zulässige Subventionen, etwa im Agrarbereich, über Importquoten und vieles mehr müssten Großbritannien und der Rest der EU ihre Interessen zunächst einmal auseinanderdividieren. Schließlich treten sie bis zum heutigen Tag gemeinsam auf. Es wird immer eine Form von Beziehung zu Großbritannien geben, schließlich gehört das Vereinigte Königreich zum europäischen Wirtschaftsraum und ist (nach Brexit) vielleicht immer noch EFTA-Mitglied.
Die Langzeitfolgen bleiben für Großbritannien aber trotzdem überschaubar und verschmerzbar zugleich. Ein trotziger Rückzug in die Isolation wäre jetzt aber der eindeutig falsche Weg für die Briten und würde nur dazu führen, dass Cameron mögliche Verbündete vorzeitig vor den Kopf stößt, noch bevor er seine Reformvorschläge im Detail darlegen konnte. Der britische Premier wird seine politischen Ziele in Brüssel selbstbewusst und offensiv verhandeln müssen. Als führender Politiker einer Wirtschaftsgroßmacht, mit dem Wissen, auch ohne EU-Verordnungen und EU-Richtlinien auskommen zu können, falls es unbedingt notwendig ist.
Brüssel muss und wird sich nicht erpressen lassen. Zudem sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten einig sind, dass es weder zusätzliche Rosinen aus dem Eurokuchen noch irgendwelche finanziellen Extrawürste für Cameron & Co. mehr geben soll. Natürlich ist die Versuchung groß, die widerborstigen Briten, nachdem sie endlich ihren Nachzahlungsforderungen nachgekommen waren, endgültig ziehen zu lassen. Aber es wäre ein fatales Zeichen für die Gemeinschaft, die schon während der Finanz- und Schuldenkrise zu zerbrechen drohte.
David Cameron’s EU speech: full text
Die Meinungen, die hier auf hayek-institut.at veröffentlicht wurden, entsprechen nicht notwendigerweise jenen des Hayek Instituts.
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