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Die EU-Strompreiskrise – Schuld des Strommarktdesigns?

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von Arnold Weiss

Seit Ende 2021 erleben wir auf den europäischen Strommärkten ein noch nie dagewesenes Preisniveau mit einem Anstieg der Strompreise um 200 % innerhalb von weniger als einem Jahr. Diese angespannte Marktsituation wurde durch geopolitische Ereignisse, nämlich durch den Krieg in der Ukraine, der sich auf die Gaslieferungen nach Europa auswirkt, noch weiter verschärft. Energiepreise sind ein äußerst sensibles politisches Thema. Für vulnerable Endkundengruppen können sie zur Armutsfalle werden, während sie in der Industrie zu höheren Kosten der nachgelagerten Produkte führen und damit die Inflation generell anheizen. Die hohen Energiepreise wirken sich auf die einzelnen Länder Europas aber unterschiedlich aus, was zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den EU-Mitgliedstaaten führt, wie auf die Preiskrise reagiert werden soll.

Während die EU-Kommission und einige Mitgliedstaaten den EU-Energiebinnenmarkt weitgehend verteidigen, geben andere dem Strommarktdesign die Schuld. In letzter Zeit wurden Markteingriffe wie Strompreisobergrenzen auch in Österreich als möglicher Ausweg aus der Energiepreiskrise diskutiert, und für einige Länder wie Spanien und Portugal bereits durchgesetzt. Aber ist das Design des Strommarktes wirklich schuld an der aktuellen Preiskrise auf dem europäischen Strommarkt?

Die Marktprinzipien von Angebot und Nachfrage sind Grundlagen des Stromsystems

Strom ist keine Ware wie jede andere, denn er hat die Besonderheit, dass er nicht effizient gespeichert werden kann. Außerdem muss die Frequenz im Stromnetz jederzeit stabil bleiben, d. h. die Übertragungsnetze müssen in Echtzeit zwischen der Einspeisung des erzeugten Stroms und dem Verbrauch des selbigen ausgeglichen werden. Das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage ist daher für die Stabilität des Stromsystems von entscheidender Bedeutung.

Dies macht den Kurzfristmarkt zu einem wichtigen Instrument für das Gleichgewicht des Systems: Im Gegensatz zum Terminmarkt, der weitgehend ein Finanzmarkt ist, löst der Kurzfristmarkt, der auch als Spotmarkt bezeichnet wird, eine physische Lieferung des gehandelten Stroms aus. Der Strom kann über eine Auktion für die Lieferung am nächsten Tag (Day-Ahead) gehandelt werden, und kurzfristige Anpassungen können über den kontinuierlichen Handel für die Lieferung an demselben Tag (Intraday) vorgenommen werden. Die Europäische Strombörse EPEX SPOT betreibt solche Strom-Spotmärkte in 13 Ländern, darunter auch Österreich.

Stromflüsse folgen den Preisen – zum Nutzen aller Europäer

Basierend auf den von Börsenmitgliedern eingegebenen anonymen Geboten für den Kauf oder Verkauf von bestimmten Strommengen ermittelt EPEX SPOT den Referenzpreis für Strom für jede Stunde eines jeden Tages. Diese Referenzpreise sind ausschlaggebend für die Erzeugungs- und Verbrauchsentscheidungen des gesamten Sektors – welche Anlage wird aktiviert, welche wird vom Netz genommen und wer verbraucht wann welche Strommenge? Diese Fragen werden letztlich durch den Markt entschieden. Insbesondere die Ergebnisse der Day-Ahead-Auktion sind hier von entscheidender Bedeutung, da sie die Stromflüsse auf dem gesamten Kontinent maßgeblich bestimmen. Dies geschieht durch den Mechanismus der Marktkopplung:

Alle Strombörsen der 27 Länder, inklusive Österreich, die am Single Day-Ahead-Coupling beteiligt sind, berechnen simultan und durch einen gemeinsamen Algorithmus die Strompreise für Europa basierend auf Angebot und Nachfrage. Dieser Algorithmus ermittelt die Angebots- und Nachfragekurven für jedes Land auf der Grundlage der Orderbücher und setzt den Marktpreis an deren Schnittpunkt fest. Bei dieser Berechnung berücksichtigt der Algorithmus alle verfügbaren grenzüberschreitenden Kapazitäten zwischen den Ländern und sorgt so für eine optimale Nutzung dieser Verbindungsleitungen. Strom fließt von einem Gebiet mit niedrigerem Preis in ein Gebiet mit höherem Preis, solange grenzüberschreitende Kapazitäten verfügbar sind. Dieser Mechanismus schafft einen jährlichen Wohlfahrtsgewinn von 34 Mrd. Euro für Europäer.

Annual Day Ahead Base price 2021

Merit-Order – die günstigsten Erzeuger werden zuerst abgerufen

GW NachfrageDas der Day-Ahead-Auktion zugrunde liegende Prinzip, die sogenannte Merit-Order, welche die Abrufreihenfolge von Anlagen festlegt, wurde jüngst wiederholt für die Strompreiskrise verantwortlich gemacht. Die Preisbildung auf dem Day-Ahead Markt erfolgt grenzkostenbasiert, d.h. die Kraftwerke werden in der Reihenfolge ihrer Grenzkosten auf den Markt gebracht, angefangen mit den günstigsten (insb. erneuerbare Energien) bis hin zu den teuersten (zumeist Kohle und Gas). Die Grenzkosten geben an, wie viel es einen Erzeuger kostet, eine zusätzliche Megawattstunde Strom zu erzeugen. Nach diesem Prinzip werden zunächst die günstigen Erzeugungseinheiten abgerufen, um die Nachfrage zu decken, und erst wenn diese voll ausgeschöpft sind, werden die teureren Erzeuger aktiviert.

Am Ende der Day-Ahead-Auktion wird allen Erzeugern der gleiche Preis gezahlt. So ermöglicht es das Merit-Order Prinzip den Erzeugern, ihre Kosten zu decken und gleichzeitig die Versorgung sicherzustellen. Darüber hinaus wird die Nachfrage zum niedrigsten möglichen Preis gedeckt, denn man beginnt die Nachfrage wie dargestellt bei den günstigsten Erzeugungspreise zu decken und geht dann schrittweise vor. Wenn die Erzeugung aus erneuerbaren Energien nicht ausreicht und die Nachfrage hoch ist, werden in Österreich vor allem die Gasanlagen den Preis bestimmen. Genau das ist in den letzten Monaten geschehen.

Scheinbar simple Lösungen würden die Energiewende und die Versorgungssicherheit gefährden

Die Strompreise haben in den letzten Monaten die Angebots- und Nachfragebedingungen in Europa widergespiegelt. Daran ist nicht das Marktdesign schuld, es macht die Situation lediglich transparent. Wir sind aber letztlich nicht mit einer Marktkrise konfrontiert, und nicht die Strompreisfindung ist verfehlt. Vielmehr liegt eine, nicht unwesentlich aus politischen Gründen entstandene Versorgungskrise mit konventionellen Energieträgern vor. Und die dort entstandenen hohen Preise werden durch den Strommarkt korrekt verarbeitet und weitergegeben.

Dennoch mehren sich unter dem Druck die Energiepreiskrise in den Griff bekommen zu müssen die Rufe nach Eingriffen in den Preisbildungsmechanismus. Das mag wie eine schnelle Lösung aussehen, hat aber gefährliche Folgen. Betrachten wir einige derzeit ventilierte Ideen dazu etwas genauer:
Eine nationale Preisobergrenze würde den Marktpreis in einem Land künstlich begrenzen. Da diese Preise aber, wie bereits erläutert, die Import- und Exportströme bestimmen, könnte ein Land, das sich auf eine Preisobergrenze verlässt, weiterhin exportieren, obwohl der Strom bereits knapp ist, und damit die Versorgungssicherheit gefährden. Nicht zuletzt deshalb, sieht auch die Europäische Kommission eine nationale Lösung nur in jenen Ländern als geboten oder zulässig an, die unzureichend über grenzüberschreitende Kapazitäten an den gemeinsamen europäischen Markt angebunden sind.

Ein weiterer Punkt der ins Zentrum der Debatte gerückt ist, ist die bereits beschriebene grenzkostenbasierte Preisbildung. Hierbei wird vor allem kritisiert, dass der teuerste Erzeuger – also aktuell Gas – den Preis setzt. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, wie bereits gesagt, dass die Nachfrage immer zum niedrigsten möglichen Preis gedeckt wird und dass günstige Erneuerbare vorrangig aktiviert werden. Weder Politik noch Forschung konnten in den laufenden Diskussionen bisher einen alternativen und effizienteren Preisbildungsmechanismus für den Stromsektor vorlegen.

Der wohl technischste Aspekt der Debatte besteht im Vorschlag eines Paradigmenwechsel vom sogenannten pay-as-clear zu pay-as-bid. Mit pay-as-clear bezeichnet man das Model, auf dem die Day-Ahead-Auktion basiert: Alle ausgeführten Transaktionen finden zum singulären Markträumungspreis (market clearing price) statt. Ein alternatives Modell ist pay-as-bid, das beispielsweise schon heute im Intraday Markt angewendet wird: Marktteilnehmer bieten zu einem für sie akzeptablen Preis, und, sobald sich zwei Gebote entsprechen, werden diese ausgeführt. Es gibt theoretisch so viele Preise pro Handelssession wie es Transaktionen gibt. Vergleicht man nun die Preiskurven von Day-Ahead und Intraday für beispielsweise Deutschland, so lässt sich aber feststellen, dass ein Wechsel weg von pay-as-clear nicht zu niedrigeren Preisen führt (s. Abb. 2 unten). Warum? Die Begründung liegt darin, dass ein Wechsel des Preisbildungsverfahrens auch zu einer Veränderung des Gebotsverhaltens führt. Während das pay-as-clear Verfahren für eine Anlage mit niedrigen Grenzkosten zum Markträumungsgebot führt, wäre der Preis im pay-as-bid Verfahren vom konkreten Gebot abhängig. Der Anlagenbetreiber wird aber weiterhin bestrebt bleiben, den besten Preis zu erzielen. Er wird also versuchen, Angebots- und Nachfragevolumen abzuschätzen, die Zahlungsbereitschaft vorherzusagen und tendenziell mit höheren Geboten in den Markt gehen. Die letztliche Aktivierung von Produktionskapazitäten basiert damit nicht mehr auf ökonomischer Effizienz, sondern auf der Fähigkeit der Marktteilnehmer den Marktpreis zu antizipieren. Die Fehleranfälligkeit dieser Vorhersagen und die grundsätzliche Tendenz mit höheren Preisen in den Markt zu gehen können damit zu einer weniger effizienten Preisfindung (und höheren Preisen) führen.

Abb 2 Pay as clear und Pay as bid Deutschland

Abb. 2 Entwicklung des täglichen Durchschnittspreis im Day-Ahead (pay-as-clear) und Intraday (pay-as-bid) in Deutschland

 

Eine Mischung der skizzierten, idealtypischen Maßnahmen wurde nun in Spanien und Portugal umgesetzt. Hier soll der Gaspreis, der für die Gebote von kalorischen Kraftwerken (also auch Kohle!) im Strommarkt veranschlagt wird, begrenzt werden. Das führt letztlich dazu, dass Kohle- und Gasanlagenbetreiber zu günstigeren Preisen im Strommarkt zu bieten verpflichtet sind. Das soll den Strompreis auf ca. EUR 130,– pro MWh reduzieren. Die Betreiber dieser Anlagen bekommen aber eine zusätzliche Entlohnung, die den Fehlbetrag zur Kostendeckung einer kalorischen Anlage mit durchschnittlicher Effizienz ausgleichen soll, wobei diese Kosten ebenfalls von den Konsumenten zu tragen sind. Auch die Erlöse und Engpassrente aus der Bewirtschaftung der Grenzkapazitäten zieht man zu der Kostendeckung heran. Damit werden also effektiv zwei Preise eingeführt: eine technologie-unabhängiger Preis zu etwa EUR 130,– und ein anderer, höherer für kalorische Kraftwerke, der aus der Summe der beiden erwähnten Komponenten besteht. Auch das mindert die durchschnittlichen Preise für die Konsumenten – aber zu welchen Kosten? Erstens handelt es sich hier um nichts anderes als ein Förderregime für kalorische Kraftwerke mit entsprechendem CO2-Fußabdruck, während die Erlöse für erneuerbare Energieträger reduziert werden. Zweitens führt dieses Modell zu zusätzlicher Produktion aus kalorischen Energieträgern, wir erhöhen also unsere Abhängigkeit von Gas und Kohle und werden damit deren Preise noch zusätzlich anheben! Drittens greift man damit in den gesamteuropäischen Wettbewerb ein und bevorzugt inländische Erzeuger mit hohem CO2-Ausstoß. Viertens wird das für den Ausbau der Grenzkapazitäten reservierte Geld aus der Engpassrente umgewidmet und nicht nachhaltig verbraucht. Fünftens wird die Bedeutung des Preissignals, das eigentlich Energieeffizienzmaßnahmen, Energieeinsparungen und Umrüstungen auf nachhaltige Energieträger anreizen sollte, gemindert. Sechstens bleiben andere Nutzungen von Gas (z.B. industrielle Nutzung und Heizen) unberücksichtigt, obwohl sie unter den durch die Maßnahme weiter hochgeschraubten Preisen zusätzlich leiden werden. Eine Ausdehnung der Pläne in Spanien und Portugal auf ganz Europa würde somit eine ganze Reihe von negativen und unerwünschten Folgen nach sich ziehen, die das zugegebener Weise verständliche Interesse an niedrigeren Strompreisen nicht rechtfertigen.

Da alle Stromerzeuger auf dem Strommarkt den gleichen Preis erhalten, argumentieren andere schließlich, dass billige Erzeugungseinheiten derzeit „übermäßige“ Gewinne machen und dass diese Gewinne durch Steuern umverteilt werden sollten. Die Definition von „übermäßigen Gewinnen“ muss dabei aber mit Vorsicht gehandhabt werden, da sie nicht unweigerlich der Realität entsprechen. Ein Markträumungspreis über den Grenzkosten sagt nämlich noch nichts über die (Über-)Deckung der Gesamtkosten aus. Tatsächlich müssen auch die Fixkosten zur Deckung der Anfangsinvestitionen – die bei dekarbonisierten Erzeugungstechnologien in der Regel hoch sind – wieder hereingeholt werden. Zudem sind die Unsicherheiten sowie die Kosten für die Absicherung der Handelsgeschäfte beträchtlich gestiegen. Fest steht: Steuerliche Maßnahmen sollten letztendlich Anreize schaffen für Investitionen in erneuerbare Energien und Flexibilität, und nicht das Gegenteil. Daher sind solche Maßnahmen auch mit Bedacht einzusetzen, um die Energiewende nicht zu gefährden. Die höchsten (vermeintlichen) Profite in der aktuellen Situation fallen nämlich bei den Erneuerbaren an. Diverse Umverteilungsmaßnahmen können wirksam sein, um die Verbraucher zu schützen, wenn sie ex-post angewandt werden und keine Marktverzerrungen verursachen – wie etwa gezielte Pauschalzahlungen. In der sogenannten EU-Toolbox , die die Kommission den Mitgliedstaaten vorgeschlagen hat, sind mehrere solcher Maßnahmen aufgeführt.

Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen reduzieren

Was uns die Strompreise heute sagen, ist, dass die Europäer nicht mehr auf fossile Brennstoffe bauen sollten, um ihren Strombedarf zu decken. Es ist das stärkste Signal für Investitionen in saubere Technologien und Flexibilität, das wir seit über einem Jahrzehnt gesehen haben. Anstatt diese Aufforderung zu einer raschen Energiewende durch voreilige Eingriffe in das Strommarktdesign zu unterdrücken, sollten Politiker, Industrie und Bürger alle ihre Anstrengungen auf die Dekarbonisierung des Energiesektors richten. Davon profitieren wird am Ende sowohl Österreich, als auch Europa.


 

Arnold Weiss ist Head of Austrian Office bei EPEX SPOT.

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Die Meinungen, die hier auf hayek-institut.at veröffentlicht wurden, entsprechen nicht notwendigerweise jenen des Hayek Instituts.

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