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08.05.2019
Warum wir Hayek auch heute noch brauchen

von Kai Weiss
Heute vor 120 Jahren, am 8. Mai 1899, wurde Friedrich August von Hayek in Wien geboren. Für den Nobelpreisträger in den Wirtschaftswissenschaften von 1974 sollte es ein, in den Worten von Peter Boettke, „ereignisreiches Leben“ werden, „ein Leben geprägt vom hautnahen Erleben der Unmenschlichkeit des Ersten Weltkriegs, des wirtschaftlichen Ruins der Wirtschaftskrise der 1920er, und des waghalsigen Spiels mit Faschismus und Kommunismus in den 1930ern und 1940ern – ein Spiel, welches die europäische Zivilisation selbst riskierte“.
Schlussendlich sollte Hayek einer der einflussreichsten Denker des Jahrhunderts werden, bot er doch Größen wie Margaret Thatcher, Ronald Reagan, und Ludwig Erhard geistige Munition. Zusätzlich wurde er noch zum Helden von klassischen Liberalen und Konservativen weltweit. Ebenso war er einer der Hauptfaktoren hinter des Aufbaus einer Bewegung, die sich der Freiheit des Einzelnen verschrieben hat, und er versuchte entgegenwirkende Denkschulen, unter anderem die Österreicher, die Chicagoer, und die deutschen Ordoliberalen zusammenzubringen, besonders durch die Gründung der Mont Pelerin Society.
Trotzdem kennen heute die wenigsten Menschen die Person Friedrich Hayek oder seine Lehren. Schlimmer noch, manche Teile der von ihm selbst gegründeten Bewegung sehen in ihm im schlimmsten Fall einen „Sozialisten“, vielleicht noch als guten Geldökonomen, aber sonst als wenig interessant; im besten Fall als einen schlechteren Ludwig von Mises, als einen Trittbrettfahrer, der seinem Mentor den Nobelpreis gestohlen hat. All das ist eine Tragödie. Hayeks unglaublich tiefes Gedankensystem, das sich mit Wirtschaft, Recht, Kultur, Politik und Philosophie beschäftigt, ist besonders in unserer heutigen Welt, in der unsere Freiheit von allen Seiten unter Beschuss steht, von besonderer Wichtigkeit.
Ideen der Zentralisierung sind heute im Westen beliebter als zu jedem anderen Zeitpunkt seit dem Fall des letzten ultrazentralisierten Staates, der Sowjetunion, im Jahre 1989. Man könnte annehmen, dass das 20. Jahrhundert bewiesen hätte, das Riesenstaaten und Kollektivismus jeglicher Art nicht funktionieren. Trotzdem sind utopische Träume davon in den letzten Jahren wiederaufgetaucht.
Auf der linken Seite des politischen Spektrums träumen Bernie Sanders und Alexandra Ocasio-Cortez (auch bekannt als AOC) in den USA, Jeremy Corbyn in Großbritannien und Aktivisten in ganz Europa vom Sozialismus, während gleichzeitig das beste reale Beispiel dafür, Venezuela, vor ihren Augen in Flammen aufgeht. Erst letzte Woche schlug der Vorsitzende der jungen Sozialdemokraten in Deutschland vor, Firmen wie BMW zu verstaatlichen, obwohl er den Niedergang eines sozialistischen Experiments, der DDR, als Westberliner quasi hautnah miterleben konnte. Diese Desaster waren natürlich kein „echter“ Sozialismus (den gab es ja noch nie) und der nächste Versuch funktioniert bestimmt. Um die Gier des freien Marktes zu besiegen, muss er durch einen mächtigen Staat ersetzt werden.
Die rechte Seite des Spektrums ist im Moment nicht viel besser. Nationalisten aus ganz Europa, von Marine Le Pen in Frankreich bis Matteo Salvini in Italien greifen den Kapitalismus genauso heftig an wie die linke Seite. Anders aber als im Sozialismus ist hier nicht die Wirtschaft wichtig. Hier geht es um die Nation an sich und alles muss sich ihrem Überleben fügen, seien es der freie Handel, Einwanderer, oder sogar der Rechtstaat, wie man in Ungarn sieht. Auch hier besteht die Forderung nach einem starken Staat.
Bei all der Aufregung vergisst man leicht, dass der Status quo, das derzeitige politische Establishment, sich ebenfalls nicht für individuelle Freiheit und die Marktwirtschaft einsetzt. Immer mehr Zentralisierung, unter anderem in EU-Institutionen in Brüssel, aber auch über die belgische Hauptstadt hinaus, lautet die Devise. Und auch hier ist ein starker Staat wieder die Hauptantwort.
Hayeks Werke bieten eine tiefgreifende Erwiderung auf diese drei unterschiedlichen Forderungen, die im Grunde doch sehr ähnlich sind. Mehr Zentralisierung kann nicht die Antwort sein, egal wer sie vorschlägt. Jonah Goldberg brachte es in einem Artikel kürzlich auf den Punkt, als er Konservative aufforderte, wieder mehr Hayek zu lesen: Die Rechte, „die neuen Befürworter des ‚wirtschaftlichen Nationalismus“ denken nicht mehr, die Eliten wären unfähig die Wirtschaft zu lenken – nur das liberale Eliten, oder ‚Globalisten‘ dazu nicht fähig wären. Ein Teil dieser Überzeugung stammt aus der oft paranoiden Idee, liberale Eliten hätten das System perfekt zu ihrem Vorteil sabotiert. Also lautet die Parole: ‚Was die können, können wir auch‘. Aber so funktioniert das nicht.“
Wer nach einem starken Staat, verantwortlich für alle Lebensbereiche, ruft, der missversteht die Welt in der wir leben. Seit Jahrhunderten, seitdem die Industrialisierung den Liberalismus auf die Bühne geholt hat, wurde unsere Welt immer komplexer. Aus größtenteils lokal organisierten Wirtschaften entwickelte sich unsere heutige globale Wirtschaft, in der jeder mit jedem frei handeln kann, solange nicht irgendeine Regierung sich dabei einmischt. Hayek nannte diese international vernetzte Welt die Great Society. Und während diese erweiterte Weltordnung sicherlich große gesellschaftliche Umbrüche, Identitätsverluste und negative wirtschaftliche Effekte mit sich gebracht hat, so brachte sie uns auch den unglaublichen Wohlstand, den wir heute genießen.
Es kann schwierig zu verstehen sein, dass diese Weltordnung so komplex ist, dass sie kein Individuum steuern könnte. Milliarden von Menschen, die täglich miteinander über tausende von Kilometern interagieren und in Wirtschaftsprozessen tätig sind, in denen Güter von Millionen Menschen über Grenzen hinweg produziert werden – all das ist schwer zu durchschauen. Aber es ist die tägliche Realität.
Wer könnte all das alleine steuern, ohne die Struktur selbst zu zerstören? Wer könnte jedes Detail kennen was passiert, wissen, was jedes Individuum, vom Bauern über den Fabrikarbeiter bis zum Ingenieur, zu jedem Zeitpunkt macht und denkt? Die Struktur reguliert sich selbst, wenn man sie sich selbst überlässt. Alle Teile arbeiten zusammen und falls ein Teilchen ausfällt wird es von einem anderen ersetzt. Aber wie könnte ein Mensch alleine sich um all das kümmern (oder auch nur so etwas simples wie einen Stift alleine herstellen)?
Ein wohlwollender Diktator – oder ein Präsident oder sogar ein Parlament – könnte versuchen all das zu koordinieren. Sie würden alle scheitern. Und so, durch ständige Eingriffe, würde die gesamte komplexe Struktur zusammenbrechen. Individuen hätten keinen freien Willen mehr. Es wäre nur mehr der weise Mann oder die weise Frau an der Spitze, die die Entscheidungen träfe. Das Resultat wären Armut und ein signifikanter Verlust der Freiheit.
Natürlich mögen die Intentionen derjenigen, die an der Macht wären, gut und wohlwollend sein. Doch ihre Taten würden sich als desaströs herausstellen. Bernie Sanders würde bei seinem Versuch den Armen der USA zu helfen, sie gemeinsam mit den reichsten 1 Prozent in die Armut stürzen, indem er ihnen alle Möglichkeit nimmt, ihr Leben selbst zu gestalten. Marine Le Pen würde mit ihrem Ziel die französische Nation zu beschützen ein komplett neues, autarkes Frankreich erschaffen, welches von dann an nur noch den Weg der Knechtschaft beschreiten würde, an dessen Ende der Autoritarismus steht. Denn sie denkt, alles was nicht dem Frankreich ihrer Gedanken dient, müsste eliminiert werden. Wie Hayek schrieb, „sobald man zugibt, dass das Individuum nur ein Mittel zum Zweck für eine höhere Instanz namens ‚Gesellschaft‘ oder ‚Nation‘ ist, folgt als nächster Schritt die Umwandlung der Gesellschaft in ein totalitäres Regime.“
Wir sollten stattdessen, so Hayek, diese Träume endlich loslassen. Wir sollten stattdessen die Idee einer Gesellschaft basierend auf der Freiheit des Individuums, sich selbst zu verwirklichen, annehmen. Statt der Zentralplanung durch eines Einzelnen, sollte die individuelle Planung jedes einzelnen Mitglieds der Gesellschaft triumphieren. Hayek sah die Rolle des Staates wie die Rolle eines englischen Gärtners: Er legt die Grundstruktur fest und verhindert klare und zerstörerische Verletzungen des Gesamtkomplexes, greift aber nicht aktiv in die Prozesse ein oder versucht alles selber anzuordnen.
Das bedeutet nicht, dass die Wirtschaft tun und lassen soll, was sie will. Tatsächlich weist Hayek darauf hin, dass eine freie Wirtschaft moralische Grundwerte braucht, die die Wirtschaft komplementiert und davor bewahrt, gefährliche Auswüchse anzunehmen. Soziale Institutionen, Sitten, Traditionen und Gebräuche, entwickelt über Jahrzehnte und Jahrhunderte, nicht durch den Staat sondern durch Individuen untereinander, würden als Schutz gegen Fehlentwicklungen des Marktes agieren. Eine freie Welt braucht eine gesunde Zivilgesellschaft neben einer freien Wirtschaft.
An dieser Stelle können viele klassisch Liberale von heute noch immer etwas von Hayek lernen. Eine Gesellschaft, welcher es nicht erlaubt ist, wirtschaftliche Resultate kritisch zu untersuchen und zu kritisieren – auch wenn diese klare nachteilige Konsequenzen in anderen Ordnungen in der Gesellschaft hervorrufen, wie zum Beispiel ein fortschreitender Abbau der sozialen Institutionen, die unsere Gesellschaft ausmachen – würde komplett auseinander brechen – möglicherweise passiert das sogar momentan.
So muss es aber nicht sein. Der Liberalismus funktioniert und es ist derjenige, den Hayek den „wahren Individualismus“ nannte. Dieser „wahre Individualismus“ basiert auf der Einsicht, dass Individuen in eine Gesellschaft, in eine Familie und andere Institutionen hineingeboren werden und dass menschliche Beziehungen die Individuen an jedem Zeitpunkt in ihrem Leben beeinflussen, genauso wie Individuen ihre Umwelt beeinflussen. Menschen sind soziale Lebewesen, keine rationalistischen Tiere, die auf nicht als ihren eigenen maximalen wirtschaftlichen Vorteil aus sind.
Dieser Individualismus basiert auf der Überzeugung, dass Ordnung spontan entsteht, nicht zentralisiert, dass Traditionen, soziale Regeln und Institutionen, sprich Kultur im Gesamten, wichtig sind, und dass Menschen – weil sie soziale Lebenswesen sind – ein natürliches Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nach einer Identität, die über einen selbst hinausgeht, und starken sozialen Gemeinschaften, die in Zeiten von persönlichen Krisen einem auffangen, haben. Und trotzdem ist dieser Liberalismus auch aufgebaut auf der Erkenntnis, dass die freie Wirtschaft, unberührt von ständigen staatlichen Eingriffen, der absolute Erfolgsgarant für das Individuum selbst, seiner Umgebung, das eigene Land, aber auch für die Menschheit – und damit jedes Mitglied der Gesellschaft – sein kann.
Dezentralisierung und Lokalismus auf der einen Seite, Globalisierung und der freie Markt auf der anderen. Auf den ersten Blick wirkt es so, als würden sie sich widersprechen. Doch Hayek zeigte uns, dass die richtige Mischung der beiden Seiten am erfolgreichsten sind. Es ist ein Liberalismus, der sowohl attraktiv wie auch nachhaltig ist. Und es ist der Liberalismus, den wir heute brauchen.
Kai Weiss ist ein Vorstandsmitglied des Friedrich A. v. Hayek Institut und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Austrian Economics Center.
Der Artikel auf Englisch: Austrian Economics Center
Die Meinungen, die hier auf hayek-institut.at veröffentlicht wurden, entsprechen nicht notwendigerweise jenen des Hayek Instituts.
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