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22.09.2022
Warum Medikamente in Europa immer häufiger nicht mehr lieferbar sind

Wolfgang Wein zeigt die Ursachen für die Nicht-Verfügbarkeit von Medikamenten in Europa auf.
Fast jeder hat das schon erlebt: man möchte ein verordnetes Medikament in der Apotheke besorgen, die Apothekerin erklärt jedoch mit Bedauern, dass dieses derzeit nicht lieferbar ist und man nicht wisse, wann und ob es überhaupt wieder erhältlich sein wird.
Früher, vor etwa 15 Jahren, war so etwas eine Seltenheit. Inzwischen ist es zum Dauerzustand geworden. Was sind die Ursachen?
Hier gilt es systemisch-ökonomische Ursachen von produktionstechnischen Problemen zu unterscheiden. Medikamente werden bekanntlich unter strengsten Qualitätsauflagen produziert, während die Prüfmethoden gleichzeitig ständig technisch verfeinert werden. Das ist natürlich gut so, aber es werden heute kleinste Qualitätsmängel eher entdeckt und führen dazu, dass eine Produktionslinie überprüft oder gewartet werden muss. Solche punktuellen Produktionsprobleme sind aber nicht die eigentliche Grundursache der immer häufigeren Lieferschwierigkeiten, das Problem ist ein anderes.
Noch vor 30 Jahren wurden Medikamentenpreise einmal verhandelt und blieben dann über die Jahre stabil, gelegentlich wurden die Preise auch an die Inflation angepasst. Seit den 2000er Jahren und insbesondere seit dem Jahr 2008 haben sich allerdings die Eingriffe der Behörden in den EU-Ländern massiv verschärft mit dem einzigen Ziel, die Preise für Medikamente so weit als nur irgend möglich nach unten zu drücken. Dahinter stecken teilweise auch ideologische Aversionen gegen die westliche Pharmaindustrie, Vorwürfe der Preistreiberei, Unverständnis für die Kosten und Schwierigkeiten der Entwicklung innovativer Medikamente oder der Vorwurf der Unterversorgung der Entwicklungsländer. Es wird zwar immer vom Patientenwohl gesprochen, es geht aber in Wahrheit nur um eines, nämlich Preise zu minimieren. Dazu wird beständig der angebliche Zusammenbruch des Gesundheitssystems wegen der teuren Medikamente an die Wand gemalt und Horrorstories über überteuerte Medikamente verbreitet. Wahr ist vielmehr, dass ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems wohl eher aufgrund von Personalmangel und anderer systemimmanenter Probleme erfolgen könnte.
Wie sehen nun die Fakten aus? Tatsache ist, dass der Anteil der Kosten für Medikamente am Gesundheitsbudget seit vielen Jahren sehr konstant bei 12-13% liegt. Die Kosten steigen in absoluten Zahlen zwar an (was man dann regelmäßig im Frühjahr in den Medien serviert bekommt), der prozentuelle Anteil an den ebenfalls steigenden Budgets bleibt aber gleich. Es gibt keine Gefahr des „Zusammenbruchs“, wie man dann am Ende jeden Jahres feststellen kann. Es ist richtig, dass die neuen biologischen Medikamente, welche die großen medizinischen Fortschritte der letzten 20 Jahre gebracht haben und auf welche wir im Westen stolz sein sollten, teurer sind, als es die noch „einfacheren“ Substanzen der früheren Dekaden waren. Ja, Aspirin war einfacher herzustellen und in Studien zu entwickeln als ein komplizierter Antikörper. Gleichzeitig – und das wird dabei nicht erwähnt – laufen bei sehr vielen umsatzstarken, etablierten Medikamenten die Patente ab und sie werden durch sogenannte billige Generika weitgehend ersetzt. Dadurch tritt insgesamt ein Ausgleich der Kosten ein, alle Experten wissen das, es wird aber kaum kommuniziert.
Aber auch bei den Generika erfolgen zusätzlich Eingriffe der staatlichen Systeme, um die Preise möglichst weiter nach unten zu drücken, ein bewährtes Herzmedikament kostet dann in Österreich weniger als ein Kaugummi. Und genau solche Eingriffe bewirken den Teufelskreis, welcher zum Verlust dieser bewährten, wichtigen Medikamente führt. Die Medikamente sind nämlich zu solch niedrigen Preisen unter den wirtschaftlichen Rahmenbedingung Europas nicht mehr herstellbar und die Produktion wird deshalb im großen Stil nach China und Indien transferiert. Bei den chemischen Roh- und Ausgangsstoffen für viele Medikamente war dies schon zuvor passiert. Während also Mieten, Benzinpreise, Lebensmittelpreise und andere Preise ständig steigen, werden die Preise für bewährte Medikamente mit allen Mitteln durch staatliche Eingriffe nach unten gedrückt. Die Schuld für die Verwerfungen wird aber, ähnlich wie bei der Inflationsdebatte, der Industrie zugeschoben.
Eine weitere unerwünschte Nebenwirkung tritt aufgrund des Parallelhandels in der EU auf. Wenn z. B. in Österreich der Preis für ein nützliches und bewährtes Medikament auf einen Minimalwert gedrückt wird, so beginnt sich der Export in andere EU-Länder zu lohnen, wo dieses Medikament noch einen höheren Preis erzielt und der Parallelhandel blüht. Wenn Herstellerfirmen ihre Planungen jedes Jahr für die Länder anhand der Marktgröße erstellen, habe sie diese Exporte und Importe zunächst nicht auf dem Radarschirm und können nicht sofort nachliefern. Dies führt zu eigentümlichen Verzerrungen und Verwerfungen auf den Märkten und die Medikamente sind dann im eigenen Land kaum erhältlich.
Ein weiteres Phänomen, ergibt sich logisch aus dem Ersetzen der Originalprodukte durch Nachahmer. Denn das Geschäft der Nachahmer-Firmen läuft so, dass man die generischen Kopien der Originalmedikamente so rasch wie möglich nach dem Auslaufen des Patents des Originalprodukts lanciert und dann abspringt, sobald der rapide abwärts trudelnde Preis das Niveau der Produktionskosten erreicht hat. Das Produkt wird aufgegeben und das „Spiel“ beginnt dann mit dem nächsten Medikament. Für den Originalhersteller verliert das bewährte Produkt ebenfalls an Wert und kann mit den ursprünglichen Produktionskosten nicht mehr hergestellt werden. Am Ende macht es wirtschaftlich dann für niemand mehr Sinn und bewährte und beliebte Medikamente verschwinden einfach vom Markt. Eine Neueinführung ist praktisch unmöglich, weil die alten, originalen Registrierungsunterlagen heute nicht mehr akzeptiert würden und man so viele Studien nachmachen müsste, dass sich dies mit einem Minimalpreis niemals rechnen kann.
Damit passiert aber etwas von geostrategischer Bedeutung, weil die EU komplett abhängig von wenigen Herstellern wird, noch dazu aus einem anderen politischen System. Hat nun einer der wenigen Hersteller ein Produktionsproblem, dann sind die anderen, welche noch dazu einen geringen Fokus auf das alte, billige Medikament haben, überrascht und können nicht über Nacht die Ausfälle kompensieren. Es kommt zu Lieferschwierigkeiten und Engpässen. Ein dramatischer Fall trat 2018 auf, als bei einem chinesischen Hersteller von Valsartan eine Verunreinigung festgestellt wurde. Nach und nach mussten viele Anbieter Chargen aus chinesischer Produktion vom Markt nehmen und Millionen von Blutdruck-PatientInnen in der EU standen ohne Medikation da. Solche Beispiele häufen sich, z.B. Ranitidin.
In noch schärferer Form präsentierte sich die Situation am Beginn der Covid-19 Krise. Indien untersagte im ersten Schock die Ausfuhr des klassischen Fiebersenkers Paracetamol, so dass in Europa sogar diese simple Fiebermedikation knapp geworden wäre. Diese Maßnahme wurde zwar wieder zurückgenommen, zeigt aber drastisch auf, dass der Westen, der all diese Produkt erfunden, entwickelt, produziert und lanciert hat, sogar ohne die einfachsten Basismedikamente dastehen kann, weil aufgrund der langjährigen staatlichen Preiseingriffe nichts mehr in Europe produziert wird.
In diesem Zusammenhang muss auch die ständige Debatte um die Durchlöcherung bzw. Aufhebung der Patentrechte genannt werden. Ich möchte die Bedeutung dieser Debatte für Europa und den Westen insgesamt in sehr drastischer Weise überzeichnen. Wenn Terroristen heute einen besonders schweren Schlag gegen Europa ausführen wollten, dann könnten sie es, wie in dem bekannten Thriller „Blackout“ machen und das Stromnetz in Europa lahmlegen. Wenn man so einen Angriff, aber mit viel nachhaltigerer Wirkung durchführen wollte, und Europa an den Wurzeln würde zerstören wollen, dann müsste man nur die Patentrechte außer Kraft setzen. Denn Europa hat kaum nennenswerten Bodenschätze, kaum Erdöl- bzw. Gas, keine billigen Arbeitskräfte oder andere Ressourcen. Was Europa noch hat, sind Innovationskraft, Ideen, Technologien, artificial intelligence, Knowhow. Das alles könnte man mit einem Schlag entwerten, die europäischen Unternehmen vernichten und damit Gleichheit herstellen zwischen denen, die Innovativ sind und denen, die nichts zusammenbringen. Sicherlich eine verlockende Option für bestimmte Kreise.
Was also ist zu tun, um die Sicherheit der Versorgung der Menschen mit guten Medikamenten in Europa zu gewährleisten? Erstens entsprechende Preise für neue, innovative Medikamente zu gewähren und diese nicht von der Bevölkerung aufgrund ideologischer und nicht stichhaltiger Preisargumente fernzuhalten. Zweitens für bewährte, ältere Medikamente, welche von den Ärzten über Dekaden aufgrund ihres guten Wirkungs- und Nebenwirkungsprofils geschätzt wurden, untere Floor-Preise einzuziehen, welche eine Produktion unter den europäischen Marktbedingungen ermöglichen. Drittens die endgültige Abwanderung von essenziellen Medikamenten zu verhindern. Es gibt z.B. kaum noch eine genuine Antibiotikaproduktion in Europa. Man stelle sich vor, was das im Kriegsfall bedeuten würde. Und viertens muss der Bevölkerung klar gemacht werden, was die Durchlöcherung bzw. Aufhebung des Patentschutzes für den Westen bedeuten würde!
Die Meinungen, die hier auf hayek-institut.at veröffentlicht wurden, entsprechen nicht notwendigerweise jenen des Hayek Instituts.
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