|
01.10.2022
Was ist von der Regierung Truss zu erwarten?

Calum T. M. Nicholson stimmt Harrison Griffiths zu, dass von Liz Truss Reformen zu erwarten sind - nur in die falsche Richtung.
In der Geschichte Großbritanniens – eine Nation, die zum Inbegriff politischer Stabilität wurde, weil sie seit über 300 Jahren weder Invasion noch Revolution erlebt hat – gibt es nur wenige oder gar keine Parallelen zu den politischen Veränderungen, die in einer einzigen Woche Anfang September 2022 stattfanden.
Die letzte – und vielleicht verhängnisvollste – Amtshandlung unserer am längsten regierenden Monarchin bestand darin, den Rücktritt des einen Premierministers, Boris Johnson, zu akzeptieren und eine neue – Liz Truss – mit dem Amt zu betrauen. Innerhalb von achtundvierzig Stunden wurde nicht nur ein „Charlie“ von einer Liz abgelöst, sondern Elisabeth II. von Charles III.
Während der buchstäblichen und landesweiten Totenwache für die verstorbene Königin war die Erschütterung des sozialen und wirtschaftlichen Gefüges offensichtlich. In Leicester kam es zu ethnisch motivierter Gewalt, als die Spannungen zwischen Hindus und muslimischen Gruppen aufflammten. Und die Regierung Truss hat als erste bedeutende Maßnahme beispiellose Steuersenkungen verkündet, die von den Finanzmärkten mit einem Absturz des Pfunds belohnt wurden, dessen Wert im Verhältnis zum Dollar auf einen historischen Tiefstand sank.
In Kombination mit den unzähligen bereits bestehenden Krisen – nicht zuletzt der eskalierenden Energiekrise, den weit verbreiteten Störaktionen von Gewerkschaften, die für angemessene Löhne kämpfen, und dem Konflikt mit dem Kontinent – steht Truss auch vor dem Problem der Orientierungslosigkeit, da es nur wenige Fixpunkte zur Anknüpfung und Stabilisierung gibt.
Ihr Vorgänger – im Windschatten des Brexit – stand natürlich vor ähnlichen Herausforderungen. Johnsons Ansatz beruhte weniger darauf, einen Weg durch die sehr realen Herausforderungen zu finden, mit denen er konfrontiert war, als vielmehr darauf, unsere Wahrnehmung dessen, was tatsächlich real war, zu verbiegen.
Wie wenige andere charismatische Führungspersönlichkeiten, besaß Johnson die seltene Fähigkeit, die politische und kulturelle Landschaft, so zu verzerren – so wie ein Stern das Gefüge der Raumzeit verformt -, dass es immer schwierig war, über Erfolg oder Niederlage seiner Regierungsmaßnahmen zu urteilen. Jede Tatsache wurde angefochten, relativiert und schließlich vergessen.
Wie Trump trotzte Johnson der politischen Schwerkraft so lange, gerade weil er mehr als irgendetwas anderes Ursache und Zweck dieser Kultur war.
Am Ende brach Johnson wie ein sterbender Stern unter dem Gewicht seiner eigenen Widersprüche zusammen und wurde mehr von Nahestehenden als von den Wählern hinausgeworfen oder im Stich gelassen. Wie sich zeigte, war der bombensichere Boris nicht geschützt vor spontaner Selbstentzündung.
Vielleicht ist es unfair, die beiden zu vergleichen, natürlich besitzt Truss nicht Johnsons Charme oder Charisma. Aber was ihr an politischem Schwergewicht fehlt, scheint sie mit politischer Energie wettmachen zu wollen, in der Hoffnung, dass beide – im Leben wie in der Physik – grundsätzlich gleichwertig sind.
In Ermangelung klarer und gesicherter Informationen darüber, was tatsächlich ist, wird diese Energie stattdessen von einem reinen Gefühl dafür geleitet, was sein sollte. Schon nach wenigen Wochen im Amt ist klar, dass es sich um eine grundsätzlich ideologische Regierung handelt. Vor allem ihr Finanzminister, Kwasi Kwarteng, vertritt Positionen, die einer libertären Haltung so nahe kommen, wie sie Großbritannien noch nie gesehen hat.
Beispielsweise konnte man fast ein kollektives Lufteinsaugen quer durch das politische Spektrum vernehmen, als er ankündigte, dass der Spitzensteuersatz von 45 % auf 40 % gesenkt wird. Selten war eine so folgenreiche politische Entscheidung so sehr von einem kompromisslosen Glauben an eine ideologische Position geprägt.
Diese Entscheidung – eine von vielen kühnen Erklärungen und politischen Veränderungen – wurde allein im konservativen Daily Telegraph als „der beste Haushalt, den ich je von einem britischen Schatzkanzler gehört habe“, als „riskanter frischer Wind“, als „Steuerbombe, die die Glaubwürdigkeit des Vereinigten Königreichs in die Luft zu jagen droht“ und als eine Übung in „A-Level-[d.h. High-School-]Wirtschaft“ bezeichnet.
Vorhersagen darüber, ob der Plan letztendlich funktioniert, um den Abwärtstrend der britischen Wirtschaft umzukehren, sind ein Narrenspiel. Jeder, der glaubt, das Ergebnis im Voraus zu kennen, betrügt sich selbst – es sind zu viele Variablen im Spiel, als dass es einen Grund für Überzeugungen geben könnte.
Sicher ist jedoch, dass dies vielleicht die letzte Gelegenheit ist, die fundamentalistische Theorie der freien Marktwirtschaft zu testen, die mit der Wahl Thatchers 1979 aufkam und schließlich zur überparteilichen Orthodoxie in der gesamten Anglosphäre wurde.
Im Laufe der Jahre ist ihre Anziehungskraft so wie die dekadente Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat, verblasst. Die Regierung Truss verwettet nicht nur das Haus, sondern jedermanns Zuhause, weil sie glaubt, dass das Problem mit der Ideologie nicht darin besteht, dass sie zu weit getrieben wurde, sondern dass sie nie weit genug getrieben wurde.
Es bleibt abzuwarten, ob sich ihr Ansatz als Allheilmittel für eine seit langem kränkelnde Gesellschaft erweist, die nun auch noch mit den Folgen einer falsch gehandhabten Pandemie zu kämpfen hat, oder ob es sich lediglich um doktrinäres Getue handelt. Wenn sie scheitern, wird dies nicht nur die Regierung zu Fall bringen, sondern vielleicht auch ein schändliches und selbstverschuldetes Ende der langen Ära der Stabilität markieren, die gleichbedeutend mit dem zweiten elisabethanischen Zeitalter war.
Ein solches Vorgehen würde unweigerlich auch den Todesstoß für die Ideologie des freien Marktes bedeuten, denn dann hätte die Theorie eine entscheidende und sehr öffentliche Konfrontation mit der Realität verloren. Allein aus diesem Grund sollten in den nächsten zwölf Monaten alle Augen auf Großbritannien gerichtet sein.
Die Meinungen, die hier auf hayek-institut.at veröffentlicht wurden, entsprechen nicht notwendigerweise jenen des Hayek Instituts.
Gefällt Ihnen der Artikel?
Das freut uns! Bitte unterstützen Sie uns, wenn Sie mehr solcher Artikel lesen möchten:
Liz Truss