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17.08.2021
Wohlfahrt und Nanny-Staat: Schutz heute – Unterwerfung morgen

von Hardy Bouillon
Hardy Bouillon lehrt politische Philosophie an der Universität Trier, Deutschland. Gastprofessuren führten ihn nach Essen, Frankfurt, Prag, Salzburg, Wien und Zagreb. Professor Bouillon ist Mitglied der Mont-Pèlerin-Gesellschaft und kooperiert mit dem Hayek-Institut, Wien.
Warum führt der Wohlfahrtsstaat fast zwangsläufig zur Unterwerfung? Was sind die Gründe für diese Entwicklung?
Ich versuche, eine kurze Antwort auf eine ziemlich komplexe Frage zu geben. Ich beginne mit einer Charakterisierung des Nanny-Staates.
Danach erkläre ich, warum der Nanny-Staat letztlich Unterwerfung bedeutet.
Hier ist also meine erste These:
Der Wohlfahrtsstaat ist eine spontane Ordnung.
Nun, für Hayekianer mag diese Charakterisierung überraschend sein, umso mehr als sie von einem Hayekianer kommt. Die spontanen Ordnungen, die Hayek im Sinn hatte, waren der Markt, die menschliche Sprache und das Recht.
Sie alle sind soziale Ordnungen, die sich langsam im Prozess der kulturellen Evolution entwickeln und sowohl gutartig als auch nützlich sind, zumindest für klassische Liberale.
Für die Freiheitsliebenden ist der Wohlfahrtsstaat nichts davon. Er ist nicht gutartig, nicht nützlich. Im Gegenteil, er ist bösartig und nutzlos.
Werfen wir nun einen Blick auf das Recht. In der klassisch liberalen Tradition wurde das Recht als Artikulation der Gerechtigkeit verstanden – Gerechtigkeit als eine künstliche (sich allmählich entwickelnde) Tugend. Warum ist das Recht eine spontane Ordnung? David Hume gibt uns die Antwort in seinem Traktat über die menschliche Natur (1739), Abschnitt „Über den Ursprung der Gerechtigkeit und des Eigentums“ (A Treatise on Human Nature (1739), Section “Of the origin of justice and property”):
Hume stellte fest, „daß nichts einfacher und näher liegend sein kann als diese Regel [von der Sicherheit des Besitzes], daß schon die Eltern, wenn sie den Frieden zwischen ihren Kindern erhalten wollen, dieselbe anwenden müssen und daß diese ersten Rudimente der Rechtsordnung bei der Erweiterung der Gesellschaft täglich weiter fortgebildet werden müssen, – wenn dies alles evident erscheint, und dies ist sicher der Fall, so können wir daraus schließen, daß es für die Menschen ganz unmöglich ist, längere Zeit in jenem wilden Zustande zu verharren, der der Gesellschaft vorangeht. Wir müssen annehmen, daß schon der anfängliche Zustand und die anfänglichen Verhältnisse gesellig waren.“
Hume bringt hier auf den Punkt, was man folgendermaßen beschreiben kann. Würden wir unseren natürlichen Eigenschaften folgen, das heißt, würden wir der Selbstliebe und der Liebe zu unseren Lieben folgen, hätten wir überhaupt keine Gerechtigkeit. Dies hätte laut Hume einen ganz einfachen Grund. Wir würden den bestmöglichen Lebensbedingungen für uns und unsere Lieben den Vorzug geben, selbst wenn dies bedeuten würde, auf Kosten anderer zu leben. Dies zu tun, wäre natürlich. Wir würden es vorziehen, Fremden das wegzunehmen, was uns gefällt, selbst wenn sie es rechtmäßig erworben hätten.
Warum also folgen wir nicht nur unseren natürlichen Eigenschaften? Für Hume war die Antwort offensichtlich. Wir erkennen, dass es kostspielig ist, nur unseren natürlichen Eigenschaften zu folgen, kostspieliger als das Gegenteil. Eltern wissen, dass sie ihre Kinder gerecht behandeln müssen, „wenn sie den Frieden zwischen ihren Kindern erhalten wollen“. Sie können nicht Ann etwas wegnehmen, um Bob eine Freude zu machen, oder andersherum. Und was für ihre Kinder gilt, gilt auch für ihre Nachbarn und alle anderen „bei der Erweiterung der Gesellschaft“. Gerechtigkeit in diesem Sinne ist eine spontane Ordnung, die sich im Laufe der Zeit entwickelt, weil die Menschen erkennen, dass es weniger kostspielig ist, die Regeln der Gerechtigkeit zu befolgen, die Regel des sicheren Besitzes zu befolgen, als sie nicht zu befolgen. Diese Abwägung gilt für jedes Individuum. Selbst der Dieb hat ein Interesse daran, dass sein Eigentum von anderen respektiert wird.
Ähnliches gilt für Märkte und für Sprache. Sich an die Regeln des Marktes und der Sprache zu halten, ist für jedes Mitglied der Gesellschaft von Vorteil und – unter dem Strich – weniger kostspielig, als sich nicht an diese Regeln zu halten.
Warum sollte der Nanny-Staat dann eine spontane Ordnung sein? Ist er nicht zumindest für diejenigen kostspieliger, die für ihn bezahlen müssen? Natürlich ist er das. Aber das ist nicht so offensichtlich, zumindest nicht am Anfang.
Am Beginn des Nanny-Staates – in der Theorie und in der Geschichte – ist das Verhältnis von Kosten und Nutzen, das von denjenigen, die keine Nutznießer sind, realisiert oder übernommen wird, ein anderes. Die Kosten sind relativ gering, da die Zahl der Nutznießer gering und die Zahl der Beitragszahler hoch ist.
Wie Bernhard Mandeville im frühen 18. Jahrhundert und Milton Friedman im späten 20. Jahrhundert feststellten, geben die Menschen den Bedürftigen, weil sie sich dann besser fühlen. Sie zahlen also in bar und erhalten dafür emotionale Erleichterung.
Außerdem scheinen es Menschen für klug zu halten, für eventuelle Notlagen vorsorgen, wenn ihr eigenes Glück schwindet. Man weiß nie, was die Zukunft bringen wird. Wenn man also „Ja“ zum Sozialstaat sagt, schützt man sich selbst. (Dies ist das Argument des populärsten Verfechters der „sozialen Gerechtigkeit“, nämlich John Rawls).
Je weiter der Wohlfahrtsstaat jedoch fortschreitet, desto mehr beginnen die Begünstigten und ihre Befürworter, ihre Interessen zu organisieren, um ihre Bezüge zu erhöhen. Infolgedessen ändert der Nanny-Staat seinen Charakter.
In weiterer Folge finden es Gruppen von Begünstigten nützlich, andere Gruppen von Begünstigten zu unterstützen. Sie tun dies aus einem sehr einfachen und egoistischen Grund. Sie hoffen, dass diese anderen Gruppen auch ihre Anliegen unterstützen werden. Und das tun sie tatsächlich. Daher wächst der Wohlfahrtsstaat immer weiter.
Wirtschaftswissenschaftler nennen dies den Log-Rolling-Effekt (auch Kuhhandel-Effekt). Der Wohlfahrtsstaat wächst und damit auch die Zahl der Leistungsempfänger, während die Gruppe der Beitragszahler kleiner wird und gleichzeitig höhere Kosten zu tragen hat.
Zu Beginn dieses Wandels könnten die Beteiligten denken: „Nun, ein gewisser Wohlfahrtsstaat ist akzeptabel. Immerhin ist er weniger kostspielig als soziale Unruhe. Jedes Regelsystem kann es verkraften, wenn einige die Regeln von Zeit zu Zeit brechen. Gilt Ähnliches nicht auch für andere soziale Systeme, die Sprache zum Beispiel? Wenn die Wahrheitsfunktion der Sprache nicht immer befolgt wird, dann entsteht kein ernsthafter Schaden. Eine kleine Lüge führt nicht zu ihrem Zusammenbruch. Wir können mit kleinen Lügen umgehen.“
Der Punkt ist, dass das Wachstum des Wohlfahrtsstaates keinen natürlichen Haltepunkt hat. Es ist nie genug, „Never Enough“, wie William Voegeli sein 2010 erschienenes Buch über den amerikanischen Wohlfahrtsstaat betitelt hat.
Unter den vielen Gründen für das Wachstum des Wohlfahrtsstaates ist einer von besonderem Interesse. Es ist ein epistemischer Grund. Wenn es um die Regel des sicheren Besitzes geht, ist der Trade-off offensichtlich. Jeder Mensch kann seinen individuellen Kompromiss mit dieser Regel berechnen, denn das notwendige Wissen ist vorhanden. Unter dem Strich ist es vorteilhaft, die Regel zu befolgen, solange alle anderen es tun, und solange der Unwillige gezwungen ist, es auch zu tun.
Im Falle des Wohlfahrtsstaates liegen die Dinge jedoch anders. Ob Sie hauptsächlich vom Wohlfahrtsstaat profitieren oder nicht, hängt davon ab, welchen Kurs der Nanny-Staat einschlägt und welchen Kurs Sie einschlagen. (man könnte etwa als Student profitieren und später, wenn das eigene Einkommen wächst, verlieren). Die Kosten-Nutzen-Struktur des Wohlfahrtsstaates ist zu komplex, um sie vollständig zu verstehen. Kaum ein Individuum kann rational seine persönliche Bilanz berechnen.
Schlimmer noch. Der Wohlfahrtsstaat verursacht seine eigene Bürokratie, die wiederum Kosten verursacht, die selbst von Experten kaum richtig berechnet werden können.
So viel zur Entwicklung, die der Nanny-Staat nimmt, sobald er einmal in der Gesellschaft etabliert ist. So viel zu den Kosten, die er verursacht. Aber warum führt das alles zur Unterwerfung des Individuums unter den Sozialstaat?
Ich möchte drei Gründe nennen. Der erste ist ein systemischer Grund. Der zweite ist epistemischer Natur. Und der dritte liegt in der Motivation. Alle diese Gründe sind seit langem bekannt.
Der systemische Grund hat mit den Institutionen zu tun – den Institutionen des Wohlfahrtsstaates. Sie verändern sich im Laufe der Zeit. Herbert Spencer, englischer Philosoph des späten 19. Jahrhunderts, sprach von einer „Metamorphose“ – einer Metamorphose der Bildungseinrichtungen, die ursprünglich geschaffen wurden, um Wohlfahrt zu stiften.
Er beschrieb diese Metamorphose in einem 1891 veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel „From Freedom to Bondage“ (1891, in: Man vs. State, S. 68f.)
Er schrieb: „Niemand, sage ich, hätte sich träumen lassen, dass sich aus einem so unschuldig aussehenden Keim so schnell dieses tyrannische System entwickelt, dem sich Menschen, die sich für frei halten, zahm unterwerfen.“ Und er fuhr fort:
„Es ist töricht anzunehmen, dass neu geschaffene Institutionen lange den Charakter behalten werden, den diejenigen ihnen verliehen haben, die sie geschaffen haben. Schnell oder langsam werden sie sich in Institutionen verwandeln, die anders sind als beabsichtigt; so anders, dass sie sogar von ihren Erfindern nicht wiedererkannt werden. Und was wird in dem vorliegenden Fall die Metamorphose sein? Die Antwort, auf die die oben angeführten Beispiele hinweisen und die durch verschiedene Analogien gerechtfertigt ist, liegt auf der Hand. Ein wesentliches Merkmal jeder fortschreitenden Organisation ist die Entwicklung des Regulierungsapparates. Wenn die Teile eines Ganzen zusammenwirken sollen, muss es Richtlinien geben, durch die ihre Handlungen gelenkt werden; und im selben Maße, wie das Ganze groß und komplex ist und viele Anforderungen stellt, die von vielen Agenturen erfüllt werden müssen, muss der Steuerungsapparat umfangreich, durchdacht und mächtig sein.“
Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Sowell hat in seinem Buch „Knowledge and Decisions“ beschrieben, was passiert, wenn diese Metamorphose eintritt. Die vom Regulierungsapparat getroffenen Entscheidungen beruhen auf retrospektivem Wissen, das auf Daten aus der Vergangenheit beruht. Solche Entscheidungen werden kategorisch und unflexibel. Das Individuum und sein prospektives Wissen, das seine individuellen Pläne widerspiegelt, sind an diesem Prozess nicht beteiligt.
Der epistemische Grund für die Unterwerfung unter den Wohlfahrtsstaat hat mit dem immer geringer werdenden Wissen über die immer größer werdende Komplexität des Wohlfahrtsstaates zu tun. Wissen ist die Grundlage jeder rationalen Entscheidungsfindung. Wenn unser Wissen unvollständig ist und/oder nur einen kleinen Teil des gesamten Phänomens umfasst, dann sind die Entscheidungen, die wir treffen, unangemessen. Wir verlassen uns dann auf andere, die behaupten, besser als wir zu wissen, worum es geht.
Wir erleben hier das Gegenteil dessen, was das Zeitalter der Aufklärung kennzeichnet. Im Zeitalter der Aufklärung wurde der Mensch immer aufgeklärter und damit befähigt, mündige, d.h. verantwortungsvolle Entscheidungen auf der Grundlage ausreichenden Wissens zu treffen. Kant schrieb 1784, „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Kant sah, dass Wissen eine Voraussetzung für das Treffen von Entscheidungen, für Mündigkeit ist. Mit der Zunahme der Größe und Komplexität des Nanny-Staates und dem Rückgang des individuellen Wissens über dieses Phänomen befindet sich das Individuum auf dem Weg zurück zu selbst auferlegter Unmündigkeit, zur freiwilligen Unterwerfung.
Der letzte Grund, der des Motivs, bezieht sich auf einen Zeitgenossen Kants, Wilhelm von Humboldt. Humboldt war einer der frühesten Kritiker des Wohlfahrtsstaates. Sein Hauptargument war, dass der Wohlfahrtsstaat den Menschen gleichförmig macht und ihn so seiner geistigen und moralischen Kräfte beraubt. Humboldt war sehr skeptisch gegenüber dem, was er „Die Sorgfalt des Staats für das positive, insbesondere physische Wohl der Bürger “ nannte (Kapitel 3 seiner „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“).
Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass bereits zu Humboldts Zeiten der Wohlfahrtsstaat in Preußen voll entwickelt war. So konnte Humboldt zusammenfassen:
„Ich rede daher hier von dem ganzen Bemühen des Staats, den positiven Wohlstand der Nation zu erhöhen, von aller Sorgfalt für die Bevölkerung des Landes, den Unterhalt der Einwohner, theils geradezu durch Armenanstalten, theils mittelbar durch Beförderung des Ackerbaues, der Industrie und des Handels, von allen Finanz- und Münzoperationen, Ein- und Ausfuhr-Verboten u. s. f. (insofern sie diesen Zweck haben) endlich allen Veranstaltungen zur Verhütung oder Herstellung von Beschädigungen durch die Natur, kurz von jeder Einrichtung des Staats, welche das physische Wohl der Nation zu erhalten, oder zu befördern die Absicht hat.“
Am wichtigsten war für Humboldt jedoch, dass der überfürsorgliche Staat, wenn er einmal etabliert ist, zu freiwilliger Unterwerfung führt. In seinen Worten:
„Noch mehr aber leidet durch eine zu ausgedehnte Sorgfalt des Staats die Energie des Handlens überhaupt, und der moralische Charakter. Dies bedarf kaum einer weiteren Ausführung. Wer oft und viel geleitet wird, kommt leicht dahin, den Ueberrest seiner Selbstthätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern.“
So viel zu Humboldt und dem Motivationsargument, das erklärt, warum Unterwerfung unvermeidlich ist, wenn man den Wohlfahrtsstaat fortbestehen lässt.
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass viele der Autoren, auf die ich mich beziehe, aus dem 18. und 19. Jahrhundert sind. Natürlich wäre es möglich, moderne Autoren mit ähnlichen Argumenten zu zitieren. Aber wenn wir zu denen zurückgehen, die in den Anfängen der ersten Nanny-Staaten lebten, sehen wir drei Dinge.
Erstens: Der moderne Wohlfahrtsstaat ist keine Ausnahme von der Regel. Im Gegenteil, er ist ein weiteres Beispiel für den spontanen Charakter, der den Nanny-Staat im Allgemeinen kennzeichnet.
Zweitens: Der Wohlfahrtsstaat ist keine Erfindung des Sozialismus. Er ist überhaupt keine Erfindung. Im Gegenteil, er ist eine spontane Ordnung.
Drittens: Angesichts der Tatsache, dass die Argumente, die das unvermeidliche Ziel des Wohlfahrtsstaates erklären, so alt sind wie der Nanny-Staat selbst, ist es nicht nötig, auf die Unterwerfung von morgen zu warten.
Die Meinungen, die hier auf hayek-institut.at veröffentlicht wurden, entsprechen nicht notwendigerweise jenen des Hayek Instituts.
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