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03.08.2021
Ziehen wir eine Generation von Psychopathen heran?

von Dr. Calum T.M. Nicholson
Calum Nicholson betrachtet in seiner key note sehr kritisch unsere Wirtschaftsordnung und deren Auswirkungen auf unsere psychische Gesundheit. Seine Überlegungen wurden anlässlich der zweiten FMRS Thessaloniki am 29. Juni diskutiert. Die Aufnahme des Panelgesprächs ist hier zu sehen: https://www.youtube.com/watch?v=i_weQJ0kQxY&list=PLDmvNdYLd2eREmKQuAW8QsixHoOsILfAr&index=30
Ich wurde gebeten, darüber zu sprechen, ob wir eine Generation von Psychopathen heranziehen.
Nun, zunächst einmal denke ich, dass die Frage gestellt wird, weil viele Menschen glauben, dass wir das tun.
Das ist an sich schon ziemlich aufschlussreich, aber möglicherweise aus überraschenden Gründen.
Zunächst einmal kann man wohl mit Fug und Recht behaupten, dass eine der großen Errungenschaften des letzten Jahrzehnts, zumindest in der westlichen Kultur, darin besteht, dass die psychische Gesundheit in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist und die Bedeutung von Empathie anerkannt wurde. Einige Jahre lang, Mitte der 2010er Jahre, fühlte sich dies wie eine stille Revolution an, eine Entwicklung und Reifung einer Kultur, die dem Verständnis und dem Umgang miteinander und mit sich selbst eine ganz neue Dimension verleiht. Die Menschen begannen, Psychology Today zu lesen. Op-Ed-Artikel über psychische Gesundheit gab es zuhauf. Berühmte Persönlichkeiten begannen, über ihre „Probleme“ zu sprechen. Prinz William und Harry haben sich sehr ehrenvoll um die Belange der psychischen Gesundheit bemüht.
Neue Begriffe hielten Einzug in unseren kollektiven Wortschatz: Ich hörte, wie zuvor obskure psychologische Begriffe wie „Gaslighting“ in alltäglichen Gesprächen auftauchten; Depression waren kein Tabuthema mehr; und plötzlich hatten viel mehr Menschen eine Reihe von psychologischen Diagnosen zur Hand und die Definitionen auswendig gelernt: ADHS, Zwangsstörungen, Asperger und Autismus, und dann zwangsläufig die eher abwertenden Begriffe wie „Borderline-Persönlichkeit“, „Narzisst“ und „Psychopath“.
All dies erschien sehr positiv. Plötzlich hatten wir eine emotional und psychologisch viel besser informierte Gesellschaft. Depressionen waren nicht länger etwas, das man verstecken oder beschönigen, oder gar unter allen Umständen verschweigen musste. Eine Therapie zu machen, bedeutete nicht mehr, dass man „verrückt“ war. Ein Kind würde in der Schule nicht mehr von Mitschülern – und sogar Lehrern – schikaniert werden, weil es sozial unbeholfen ist oder sich nicht konzentrieren kann. Wissen schuf Verständnis und führte zu einer einfühlsameren Gesellschaft.
All dies ist eine bedeutende Errungenschaft und wahrscheinlich die positivste Veränderung, die in diesem Jahrhundert in der westlichen Kultur stattgefunden hat. Aber wie bei jeder großen kulturellen Veränderung gab es auch eine Kehrseite, die in den letzten Jahren deutlich wurde.
Wie bei so vielem in diesen Tagen wurde diese Schattenseite mit der Wahl von Donald Trump im Jahr 2016 offensichtlich und schnell deutlich. Seine bizarren Posen und Äußerungen führten unweigerlich dazu, dass „Amateurpsychologen“ eine Vielzahl von Diagnosen seiner merkwürdigen Persönlichkeit stellten: Er wurde zu einer öffentlichen Studie über Narzissmus, Soziopathie und so weiter. Nach seiner Wahl wurden die sozialen Medien, die bis dahin ein eher harmloser Ort waren, zu einem Raum hitziger Auseinandersetzungen, und die Gesellschaft polarisierte sich infolgedessen zunehmend.
Eines der Nebenprodukte der zunehmenden Toxizität der sozialen Medien und damit der öffentlichen Sphäre im Westen ist die plötzliche und seltsame politische Ökonomisierung und die Verwendung von Sprache und des Fachjargon der psychischen Gesundheit als Waffe. Dies geschah auf zweierlei Weise.
Erstens werden die Probleme mit der eigenen psychischen Gesundheit nicht mehr nur als ein Spektrum menschlichen Leidens verstanden. Sie werden heute auch als identitätsstiftend oder sogar als etwas Positives gesehen und von vielen auch so kommuniziert – Greta Thunberg bezeichnet Autismus bekanntlich als ihre „Superkraft“. Es geht nicht nur darum, dass jemand mit ADHS, Depressionen oder Autismus zu kämpfen hat. Viele definieren sich über ihre Diagnose. Psychische Gesundheit ist, wie so viele andere Aspekte unseres Lebens, zu etwas Performativem geworden. Infolgedessen haben die Bezeichnungen und Kategorien der psychischen Gesundheit in der Kultur an Bedeutung gewonnen und sich durchgesetzt.
Also sehen wir Menschen, die „als jemand mit Autismus“ oder ADHS oder Depression usw. sprechen. Als Thunberg ihre Autismus-Diagnose bekannt gab, kam das für sie – eine öffentliche Person – einer Impfung gegen Kritik gleich, da jede Kritik leicht als Kritik an einer verletzlichen Person ausgelegt werden könnte. In ähnlicher Weise haben viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Journalisten festgestellt, dass es ein wirksames Mittel ist, sich selbst als Opfer darzustellen – insbesondere im Hinblick auf ihre psychische Gesundheit -, um Fuß zu fassen. Die Menschen werden dafür gelobt, „mutig“ oder „stark“ zu sein, wenn sie öffentlich über ihre psychische Gesundheit sprechen.
Doch bei all dem herrscht ein auffälliges Schweigen über das Wissen der Ursachen und Bedingungen für schlechte psychische Gesundheit. Oft scheint es zu genügen, in der Öffentlichkeit etwas zu verkünden – fast wie eine Art Ritus oder Ritual. Mit anderen Worten: Das Reden über psychische Gesundheit schafft nicht nur einen Raum, in dem sich die Menschen frei von Verurteilungen um ihr Wohlbefinden und ihre Heilung kümmern können, sondern einen Raum, in dem ihr Zustand zu etwas Performativem geworden ist, zu etwas, das einen Wert hat. Es gibt heute zahllose Schriftsteller und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die anscheinend ihr krank-sein zum Beruf machten – die von nichts anderem als ihrer Verletzlichkeit oder ihrem Opferstatus sprechen. Wie in so vielen anderen Bereichen der kapitalistischen Kultur geht es auch hier nicht um persönliche Heilung. Es geht um Geld.
Zweitens ging es bei der Diskussion über psychische Gesundheit früher ausschließlich darum, andere zu verstehen und sich in sie hineinzuversetzen, und jetzt kommt das Bestreben hinzu, sie auch zu verurteilen. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich gehört habe, dass jemand seinen Ex als „Narzissten“, „Psychopathen“ oder „Borderline-Persönlichkeit“ bezeichnet hat, der ihn die ganze Zeit „in den Wahnsinn“ zu treiben suchte. In ähnlicher Weise lese von oder höre ich fast täglich Menschen, die sagen: „Politiker X ist ein Narzisst, der die Nation irr macht“.
Plötzlich wird jede schlechte persönliche Erfahrung mit quasi medizinischen Begriffen beschrieben, in dem Versuch, ein gebrochenes Herz oder verletzten Stolz klinisch zu diagnostizieren. Und plötzlich wird jeder in der Öffentlichkeit stehende Exzentriker – oder jede Persönlichkeit, die nicht offensichtlich von einer Fokusgruppe geprägt wurde – als „Psychopath“, „Narzisst“ oder was auch immer pathologisiert.
Und damit sind wir wieder bei der Frage. Ziehen wir eine Generation von Psychopathen heran? Ich würde sagen, nein, das tun wir nicht. Aber wir haben eine Kultur geschaffen, in der unsere erste Reaktion darin besteht, Verhalten, das uns nicht gefällt oder das wir vielleicht nicht verstehen, zu pathologisieren und die Menschen, die sich so verhalten, zu diagnostizieren. Wenn wir jemanden als Psychopathen bezeichnen oder mit einem anderen Etikett versehen, ziehen wir in der Regel eine Grenze zwischen „uns“ und „ihnen“, zwischen den „guten“ oder „gesunden“ Menschen und den „schlechten“ oder „verrückten“. Das ist es, was Etiketten tun: Sie erklären nicht, warum jemand so ist, wie er ist, oder tut, was er tut, sondern geben einfach an, was er ist, und zwar in der Regel, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken – oder zu behaupten -, dass das, was er ist oder was er tut, abnormal ist, jenseits des Normalen und in der Regel – letztendlich – seine Schuld. Trotz des Geredes über Empathie, das für die ersten Diskussionen über psychische Gesundheit vor einem Jahrzehnt charakteristisch war, hat die Diskussion jetzt alle Merkmale, die darauf hindeuten, dass es nicht darum geht, Menschen zu verstehen und anzunehmen, sondern sie zu beurteilen und abzuwerten.
Und damit will ich nicht sagen, dass sich die Menschen normal oder empathisch verhalten. Ich denke, die Frage „Ziehen wir eine Generation von Psychopathen heran?“ ist in gewisser Weise eine berechtigte Frage, da wir sicherlich ein zunehmendes antisoziales Verhalten beobachten, vor allem in den sozialen Medien, das natürlich in die reale Welt ausstrahlt. In den letzten Jahren ist das Online-Mobbing sprunghaft angestiegen, und es besteht der allgemeine Eindruck, dass die sozialen Medien in den letzten Jahren immer toxischer geworden sind. Wo es vor einigen Jahren noch höflich und spielerisch zuging, ist der Umgangston heute ein zunehmend schlecht gelaunter und kämpferischer, voll von Sticheleien und dem zunehmenden Einsatz von Mobbing-Taktiken in hitzigen Debatten, inklusive Versuchen, Menschen in den sozialen Medien für vermeintliche Gedankenverbrechen oder vermeintlich unpassende Assoziationen zu beschuldigen und bloßzustellen.
Seit Beginn der Pandemie ist im Vereinigten Königreich ein Anstieg von 32 % bei den Anlagebetrügereien zu verzeichnen, da die Menschen versuchen, ihren Wohlstand zu schützen oder alternative Einkommensformen zu finden. Bei den Betrügereien im Zusammenhang mit Online Dating Plattformen wurde ein Anstieg von 38 % beobachtet, weil diese Plattfomen während der Pandemie stärker genutzt wurden, waren auch Betrüger viel aktiver und nutzten zynischer denn je die Leichtgläubigen und Anfälligen aus.
Dennoch muss die Frage gestellt werden, ob es eine andere Erklärung für all diese Probleme und die Zunahme antisozialen Verhaltens gibt? Eine Erklärung, die keine Pathologisierung der Menschen und schon gar nicht der jungen Menschen erfordert?
Ich glaube, es gibt sie, und sie ist sehr einfach: Was wäre, wenn es zwar pathologisch ist, das Kranke aber im System zu finden ist und nicht bei den Menschen, die von ihm manipuliert werden?
Seit den 1980er Jahren leben wir in einer so genannten neoliberalen Wirtschaftsordnung. Das heißt, eine Wirtschaft, in der der Markt über alles andere gestellt wird und in der die Lösung für jedes Problem darin gesehen wird, staatliche Regulierungen zu beseitigen und Hindernisse der reinen Marktlogik abzubauen. In diesem System sind die Menschen nicht Selbstzweck oder in erster Linie Bürger, sondern Mittel zum wirtschaftlichen Zweck und werden in erster Linie als Konsumenten von Waren betrachtet. Darüber hinaus hat diese neoliberale Periode, die von Anfang an stark datengesteuert war, eine enge Beziehung zur Informatik, die zur gleichen Zeit kommerziell verfügbar wurde, als Reagan und Thatcher neoliberale Wirtschaftspolitik umsetzten. Man könnte so weit gehen zu sagen, dass die Informatik die Technologie des Neoliberalismus ist und der Neoliberalismus die Wirtschaft der Informatik.
Das Ergebnis ist eine ausgehöhlte Gesellschaft. Der einzige Wert, der heute als sinnvoll erachtet wird, ist ein greifbarer, quantifizierbarer, insbesondere wirtschaftlicher Wert. Alles qualitative oder immaterielle wird nicht nur als wertlos, sondern sogar als völlig bedeutungslos angesehen. So haben wir die Schließung „defizitärer“ lokaler und sozialer Dienste erlebt, deren wahrer Wert sich nie quantitativ und schon gar nicht in direkten und greifbaren wirtschaftlichen Begriffen ausdrücken ließ. Kulturelle Institutionen – wie der Kirche -, die ein Selbstzweck waren und die Menschen als Selbstzweck behandelten, wurden ausgehöhlt, oder wir konnten ihre Umwandlung in gewinnorientierte Unternehmen, wie es bei den populären amerikanischen Megakirchen der Fall ist, beobachten. Gleichzeitig haben wir die Verwandlung von Marken und Konsumgütern in quasi-religiöse Symbole oder unbezahlbare Reliquien erlebt. Seit den 1980er Jahren sind Sportstars durch die Vermarktung von Marken zu Idolen geworden; Marken sind zu Identitäten geworden, wie Nike oder Apple; Produkteinführungsveranstaltungen sind zu Erntedankfesten geworden, bei denen Hohepriester der Technik von erhöhten Bühnen aus in der Sprache des Technologiejargons vor begeisterten, jubelnden und klatschenden Verbraucherkongregationen sprechen; Sportkarten von toten oder nicht mehr aktiven Sportidolen werden für Millionen von Dollar verkauft, wie Reliquien alter Religionen.
Und doch sind diese neuen Formen des neoliberalen, konsumorientierten Sinns hohl, weil sie zynisch und manipulativ sind, und tief im Inneren wissen wir das alle. Wenn die Menschen diese zynische Logik ausleben und nicht mehr in der Lage sind, Menschen als Menschen zu sehen, sondern nur noch als Kunden und Konsumenten, können wir ihnen das verdenken? Sie sind in einer Kultur aufgewachsen, die Kultur nicht schätzt, es sei denn, diese Kultur wird von der neoliberalen Wirtschaft erzeugt. Und wenn die Menschen zornig versuchen, diese Kultur abzulehnen, indem sie, entweder das Establishment abzulehnen – wie die Trump-Anhänger – oder das Establishment zu reformieren – wie die Woke-Aktivisten es tun – können wir es ihnen verdenken? Beide „Seiten“ – die in ihren grundlegenden Anliegen mehr gemeinsam haben, als wir im Allgemeinen zugeben wollen – sind erschöpft von vierzig Jahren einer Wirtschaft, die sie als Mittel zum Zweck und nicht als Selbstzweck behandelt und sie zynisch manipuliert hat.
Ziehen wir also eine Generation von Psychopathen heran? Das glaube ich nicht. Aber selbst wenn es so wäre, was hat sie dazu gemacht? Wie auch immer, das eigentliche Problem ist nicht, dass die Menschen psycho-pathologisch sind. Es ist, dass wir in einem neoliberalen System leben, das für die menschliche Psyche pathologisch ist. Die Kultur mag uns in letzter Zeit die Terminologie gegeben haben, um uns gegenseitig zu diagnostizieren und zu pathologisieren, aber ich denke, wir täten besser daran, diese Werkzeuge gegen das System selbst zu richten und die Bedingungen innerhalb des Systems zu diagnostizieren, die uns als Gesellschaft psychologisch so anfällig gemacht haben.
Sehen Sie hier Calum Nicholsons Vortrag im englischen Original:
Die Meinungen, die hier auf hayek-institut.at veröffentlicht wurden, entsprechen nicht notwendigerweise jenen des Hayek Instituts.
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